Ruinen des Kapitalismus: Der begehrte Pilz aus dem gestörten Wald

Nr. 36 –

Wie weiter in einer ökonomisch und ökologisch verheerten Welt? Eine US-Anthropologin sucht Antworten bei einem Pilz – und legt eines der faszinierendsten Sachbücher des Jahres vor.

Matsutake sammeln heile vom Krieg, sagen einige KambodschanerInnen. Und so ein Pilz hat einiges zu erzählen. Foto: Anna Lowenhaupt Tsing

Was kommt nach dem Fortschritt? Die Frage tut weh, gerade den Linken. Das sozialdemokratische Fortschrittsmodell – technische Entwicklung, Wirtschaftswachstum, Ausbau des Sozialstaats – war einige Jahrzehnte lang durchschlagend erfolgreich. Der Kuchen wurde grösser, auch dank fossiler Energien. Das machte es einfacher, sich ein grösseres Stück davon zu erkämpfen. Dass dieses Modell am Ende ist, wissen wohl alle – und ob sich der soziale Fortschritt vom Technikoptimismus und vom Wirtschaftswachstum trennen lässt, ist unklar.

«Ich wüsste nicht, wie ich ohne die Idee von Fortschritt über Gerechtigkeit nachdenken sollte», schreibt auch die US-Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing. Trotzdem versucht sie genau das und noch viel mehr – in einem der faszinierendsten Sachbücher dieses Jahres.

Eine Börse mitten im Wald

Wie sollen wir trotz der ökonomischen und ökologischen Verheerungen leben? Für dieses Problem, so Lowenhaupt Tsing, gebe es «weder Fortschrittserzählungen noch solche des Niedergangs, die uns erklären würden, wie ein gemeinsames Überleben bewerkstelligt werden könnte». Um eine Antwort zu finden, geht sie in den Wald. Mit Eskapismus hat das nichts zu tun – die Wälder im US-Bundesstaat Oregon, in denen sie acht Jahre geforscht hat, sind alles andere als Idyllen: Die Holzindustrie hat sie ziemlich kaputt hinterlassen. Die imposanten Ponderosa-Kiefern sind gefällt, nachgewachsen sind Dickichte aus Drehkiefern und Fichten: «zu kleinwüchsig für die Holzindustrie, als Erholungsgebiet nicht malerisch genug».

Für japanische Gourmets ist genau das ein Glücksfall: Drehkiefern leben in Gemeinschaft mit dem Matsutake, dem in Japan begehrtesten und teuersten Pilz. Mit Matsutakegeschenken schlichtet man Familienfehden und umgarnt Handelspartner; Haikus schwärmen von ihm. Der Pilz lässt sich nicht anbauen, nur sammeln, und Oregon ist zum wichtigsten Sammelgebiet geworden. Die Preisverhandlungen zwischen Sammlerinnen und Aufkäufern sind lebhaft, eine Börse mitten im Wald. Matsutakehandel ist offensichtlich ein Teil des Kapitalismus, und doch ist er mehr. Es sind vor allem Flüchtlinge aus Südostasien, die in Oregon Pilze sammeln. Für viele ist die Matsutakesaison nicht nur die bestbezahlte, sondern überhaupt die beste Zeit des Jahres. Pilze sammeln heile vom Krieg, sagen einige KambodschanerInnen sogar.

Anna Lowenhaupt Tsing erzählt ihre Geschichten, ohne zu idealisieren. Sie sucht nach «den nichtkapitalistischen Elementen, von denen der Kapitalismus abhängt». Nicht nur, um Kritik zu üben: «Privatisierung erfolgt niemals vollständig; um überhaupt Wert schöpfen zu können, ist sie auf gemeinschaftliche Räume angewiesen. Darin liegt das Geheimnis des mit Eigentum einhergehenden Diebstahls – aber auch das seiner Verwundbarkeit.»

In Japan selbst wachsen nur noch wenig Matsutake. Das liegt daran, dass der Pilz «gestörte» Wälder braucht: Kieferngehölze auf rohen, humusarmen Böden. Wo Japans Wälder nicht mehr genutzt werden, verdrängen jedoch Laubbäume die Kiefern. Japanische Freiwillige versuchen nun, mit gezielten Eingriffen wieder Kiefernwälder entstehen zu lassen. «Bäuerliche Landschaften seien das Testgelände, wenn es darum ginge, die Beziehungen zwischen Mensch und Natur wieder nachhaltig zu machen», zitiert die Autorin einen Beteiligten. Die Tätigkeit im Gelände verändere auch die Menschen: «Warum kann die Arbeit mit der Landschaft das Gefühl entstehen lassen, wieder Möglichkeiten zu haben?»

Matsutakewälder sind also eine Kulturlandschaft – ein Konzept, das in den USA keine Tradition hat. Dort wird menschliches Eingreifen oft mit Zerstörung gleichgesetzt. Das führt dazu, dass sich VertreterInnen der internationalen Matsutakeforschung (ja, die gibt es!) bei ihren Treffen dauernd missverstehen, wie die Autorin amüsant beschreibt.

Weder Weltrettung noch Horror

Es geht noch um viel mehr: etwa um die Geschichte des Lieferkettenkapitalismus japanischer Prägung – so viel wie möglich an Firmen in den Produktionsländern auslagern –, der heute die ganze Welt erobert hat. Oder um die neusten Forschungen über Pilze, die bisherige biologische Konzepte radikal infrage stellen: «Bei den Pilzen können wir nicht sagen, was eine Spezies ist. Wir haben keine Ahnung», sagt der Forstpathologe Ignacio Chapela. Um die Gegenwart zu verstehen, ist es nötig, die Gräben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften hinter sich zu lassen.

Anna Lowenhaupt Tsings Buch endet mit keinem eindeutigen Fazit, weder mit einem Weltrettungsplan noch mit einer Horrorvision. Vielleicht gerade deshalb hat sie etwas Erstaunliches geschaffen: den Anfang einer Erzählung über das, was sie «gemeinsames Überleben» nennt, die Umrisse einer Welt, in der die Menschen nicht mehr die einzigen Hauptpersonen sind, in der sich auch von Tieren, Pflanzen und Pilzen lernen lässt.

Anna Lowenhaupt Tsing: Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Aus dem Englischen von Dirk Höfer. Verlag Matthes und Seitz. Berlin 2018. 448 Seiten. 42 Franken