Durch den Monat mit Jürg Halter (Teil 2): Ist Kaspar geisteskrank?

Nr. 37 –

Der Debütroman von Jürg Halter ist kein leichtes Lesestück: Der Protagonist spricht mit Computeralgorithmen und will sich «den Anderen» anschliessen.

Jürg Halter: «Kaspars Krankheit besteht darin, dass er über einen ‹gesunden› Geist in einer kranken Gesellschaft verfügt.»

WOZ: Jürg Halter, Sie haben soeben Ihren ersten Roman, «Erwachen im 21. Jahrhundert», veröffentlicht …
Jürg Halter: Ich würde eher von einem Antiroman sprechen.

Weil er keine eigentliche Handlung hat?
Es gibt eine Rahmenhandlung. Der Tunichtgut und Schriftsteller Kaspar erwacht in seiner Wohnung aus einem Albtraum, in der Nacht vor seiner Abreise nach Brest, wo er sich «den Anderen» anschliessen will. In dieser Zeit durchlebt er einen Trip, eine totale Überforderung. Er versucht, den Horror der Wirklichkeit in seiner Gesamtheit zu reflektieren. Oder situativ zu empfinden: In einer Szene liegt Kaspar in der Badewanne und «erlebt», wie um ihn herum Flüchtlingsschiffe versinken, während ein Game-Entwickler erklärt, es gehe ihm darum, eine «lebens-, also kampfnahe Kriegserfahrung zu vermitteln».

Sie sprechen von einem Trip, obwohl keine Drogen auftauchen. Ist Kaspar geisteskrank?
Kaspar steht auf der Kippe. Aber seine Krankheit besteht gerade darin, dass er über einen «gesunden» Geist in einer kranken Gesellschaft verfügt. Er kann aber nicht mehr abschalten und setzt sich dem totalen Einzughalten der Welt zunehmend verzweifelter aus. Dem alles durchökonomisierenden Kapitalismus, der Grausamkeit der europäischen Staaten im Umgang mit Flüchtlingen, dem technologischen Wahn.

Trotzdem: Zwischendurch spricht er mit dem Computeralgorithmus Eliza, der als überholt charakterisiert wird und «nötige Updates verpasst hat». Ist das Gott?
Die Figur ist eher eine Kritik am unreflektierten Zukunftsglauben. Jede technologische Neuerung wird nur als Chance gesehen. Expertinnen und Experten auf ihren Fachgebieten versuchen, die Welt zu erklären, aber oft ohne das Gesamtbild zeichnen zu können. Kaspar versucht wenigstens, das Panorama des Wahnsinns der Gegenwart zu verstehen, Worte dafür zu finden. Um auf die Game-Entwickler zurückzukommen: Das ist ja nicht einfach frei erfunden. Die US-Armee etwa investiert im grossen Stil in die Entwicklung von Computerspielen – die daraus folgende kriegsfreundliche Gehirnwäsche von Jugendlichen wird zu selten thematisiert.

Kaspar klingt zwischendurch wie ein Verschwörungstheoretiker, der Zusammenhänge in allem erkennt.
Verschwörungstheoretiker haben immer einfache und schlüssige Erklärungen bereit – Kaspar hadert damit, dass ihm diese fehlen. Das ist die Motivation für seinen Entscheid, aus seinem linksbürgerlichen Leben auszubrechen und sich «den Anderen» anzuschliessen, einer Gemeinschaft, die ideologisch nicht bestimmt ist und über die man nur weiss, dass sie «entscheidend» Widerstand leisten will. Vielleicht treibt Kaspar aber auch nur die Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seiner untergetauchten grossen Liebe Josephine nach Brest, wo er sie vermutet.

Was auch skeptisch macht beim Lesen: Wir wissen nicht, ob sich Kaspar gerade einer Terrorgruppe anschliesst.
Es gibt nur Andeutungen: «Die Anderen» wollen sich der Entmündigung des Menschen entgegenstellen. Es gibt jene Mitglieder, die Gewalt als Mittel ablehnen. Kaspar selber ist sich da noch unsicher. Es ging mir auch darum, dass er nicht einfach Mitglied einer NGO wird, die Entwicklungshilfe als Feigenblatt des Westens praktiziert. Kaspar musste seine eigenen Privilegien opfern. Es wäre vielleicht der Stoff für eine Fortsetzung: wie sich «die Anderen» organisieren und wie sie ihre Pläne in die Tat umsetzen.

Sie denken schon über eine Fortsetzung nach?
Nein, es träumte mir nur.

Also geht es Ihnen nicht darum, in die «nächste Liga» der Romanautoren aufzusteigen, wie Ihnen das der «Tages-Anzeiger» unterstellt hat? Warum dann ein Roman?
Solche Kategorisierungen sind lächerlich. Und nein, das war nicht die Motivation. Die Form drängte sich, wie immer bei mir, aus dem Stoff heraus auf. Ich schreibe nicht mit einer fixen Vorstellung, was das Resultat sein soll. Ich vertraue auf den Flow.

Aber noch einmal: Das ist nicht sehr zugänglich.
Kann sein, muss aber nicht. Es ist kein Zufall, dass Kaspar den «Roman eines Schicksallosen» von Imre Kertész erwähnt. Dessen Skepsis gegenüber der Sprache hat mich sehr beeinflusst. Kaspar ist ja selber Schriftsteller, der sein Schreiben und auch immer wieder den Literaturbetrieb reflektiert.

Zum Beispiel mit den Porträts, in denen Kaspar Autorentypen satirisch überzeichnet?
Genau. Kaspar weiss, dass die Kunst selbst immer wieder um ihre Freiheit kämpfen muss. Jedes System fördert Kunst – einfach mehr oder weniger jene, die ihm genehm ist. Freie Kunst muss deshalb zumindest Konventionen hinterfragen und manchmal auch richtig zubeissen.

Der Roman von Jürg Halter (38) ist soeben im Zytglogge-Verlag erschienen. An der Buchtaufe im Dachstock der Berner Reitschule sind Endo Anaconda und Mario Batkovic zu Gast (Dienstag, 18. September, 20 Uhr). Weitere Auftritte: 19. September in der Basler Buchhandlung Bider und Tanner, 20. September im Literaturhaus in Stans.