Flüchtlingspolitik: Wer einreist, ist einfach da

Nr. 37 –

1,6 Millionen Menschen sind in den letzten zwei Jahren aus Venezuela geflohen. Die lateinamerikanischen Aufnahmeländer fühlen sich zur Aufnahme verpflichtet – fordern aber internationale Hilfe.

Die Bilder erinnern an die «Balkanroute» im Sommer 2015: Strassen mit nicht enden wollenden Trecks von Flüchtenden, bepackt mit Koffern, Rucksäcken, kleinen Kindern. Ein paar Alte, müde geworden vom langen Marsch, werden getragen. «Wir nähern uns einer Krise, wie wir sie in anderen Weltgegenden, etwa im Mittelmeerraum, schon gesehen haben», sagt Joel Millman, Sprecher der Internationalen Organisation für Migration. Millman spricht von den 2,3 Millionen VenezolanerInnen – rund sieben Prozent der Bevölkerung –, die seit 2014 ihre Heimat verlassen haben. Allein in den vergangenen zwei Jahren waren es 1,6 Millionen. Das sind zwar weniger, als vor dem Krieg in Syrien geflüchtet sind. Für die Aufnahmeländer aber sind es im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung mehr, als beispielsweise Deutschland in jenem Sommer 2015 aufgenommen hat, in dem Bundeskanzlerin Angela Merkel verkündete: «Wir schaffen das!»

Inzwischen schottet sich Europa ab, bezahlt die Regimes in der Türkei oder Libyen dafür, dass sie den reichen Ländern Geflüchtete vom Leib halten, Italien lässt aus Seenot gerettete Menschen nicht mehr an Land. Aus Lateinamerika, wo die Zahl der Geflüchteten aus Venezuela weiterhin stetig steigt, hörte man hingegen lange keine Klage. Die Grenzen sind nach wie vor offen – obwohl so gut wie alle, die sie überqueren, in Europa abschätzig «Wirtschaftsflüchtlinge» genannt und wieder zurückgeschickt würden. In Lateinamerika aber spricht man angesichts der verheerenden Engpässe an Lebensmitteln und Medikamenten in Venezuela von einer «humanitären Krise» und fühlt sich zu Hilfe verpflichtet.

Humanität vor Grenzschutz

Nur die Regierungen von Ecuador und Peru haben Ende August von den Geflüchteten kurzfristig einen Pass zur Einreise verlangt, wurden dann aber schnell von Gerichten zurückgepfiffen. Ecuador kennt in seiner Verfassung eine «universelle Staatsbürgerschaft»: Jede und jeder darf einreisen und braucht dafür keine Papiere. In Peru wird Humanität höher gewichtet als Grenzschutz, die Behörden wurden angewiesen, ältere Geflüchtete, schwangere Frauen und Kinder und ihre Begleitung – also so gut wie alle – ins Land zu lassen.

Reiche VenezolanerInnen setzen sich in der Regel mit dem Flugzeug nach Spanien ab. Seit dem Beginn der Krise 2014 sind dort rund 200 000 angekommen. Im vergangenen Jahr stellten sie mehr Asylanträge als alle AfrikanerInnen zusammen. Die Mittelschicht und die Armen aber reisen zu Fuss oder mit dem Bus, zunächst ins benachbarte Kolumbien. Rund die Hälfte – inzwischen über eine Million – ist dortgeblieben. Die anderen ziehen weiter, vor allem nach Ecuador (etwa 400 000), Peru (ebenfalls rund 400 000) und Chile (über 200 000). Ein paar Tausend kamen bis Argentinien. Von Problemen hörte man bislang nur aus Brasilien, über dessen Grenze mit Venezuela im Dschungel bislang weniger als 50 000 Geflüchtete gekommen sind. Mitte August wurde dort ein Zeltlager niedergebrannt, am vergangenen Wochenende soll ein bei einem Diebstahl ertappter Geflüchteter gelyncht worden sein.

Dass es ausgerechnet im grössten und bevölkerungsreichsten Land mit den wenigsten Geflüchteten zu vereinzelten Gewaltexzessen kam, führen lokale KommentatorInnen auf die ausländerfeindliche Hetze rechter Kandidaten für die Präsidentschaftswahl Anfang Oktober zurück. Für einen aufgewiegelten Mob sind VenezolanerInnen leicht zu erkennen: Sie sprechen Spanisch, während man in Brasilien Portugiesisch spricht.

Informeller Sektor als Chance

Überall sonst in Lateinamerika hat die Integration lange weitgehend problemlos geklappt. Dies liegt zunächst daran, dass keines der Aufnahmeländer einen bürokratischen Apparat aufgebaut hat, der Geflüchtete – nach welchen Kriterien auch immer – in «berechtigte» und «unberechtigte» scheidet, um möglichst viele zurückzuweisen. In der Regel genügt ein Personalausweis zum Grenzübertritt. Und weil die Behörden wissen, wie schwer es derzeit in Venezuela ist, an gültige Papiere zu kommen, wird oft nicht einmal dieses Dokument verlangt. Wer einreist, ist einfach da. Es gibt keine Sammellager, keine Unterkünfte mit Residenzpflicht. Es gibt aber auch keine Hilfe. MigrantInnen aus Venezuela sind auf sich allein gestellt.

Zunächst kam ihnen dabei etwas entgegen, was gemeinhin als Schwäche der Volkswirtschaften Lateinamerikas gilt: ein riesiger informeller Sektor, in dem in den ärmeren Ländern des Subkontinents bis zur Hälfte des Bruttoinlandsprodukts erarbeitet wird. Das sind Firmen und Werkstätten aller Art, die nirgendwo registriert sind und die auch keine Steuern bezahlen, ambulante HändlerInnen, Restaurants oder Agrarbetriebe, die ArbeiterInnen brauchen. Niemand fragt nach Papieren. Wer sich die über 6000 Kilometer lange Reise von Venezuela nach Chile vorgenommen hatte, machte immer wieder ein paar Tage oder Wochen Pause, um Geld zu verdienen. Unterkunft fanden viele MigrantInnen in den Armenvierteln der Städte, wo eine Hütte aus Holz und Wellblech in wenigen Stunden zusammengezimmert ist und niemand nach einer Erlaubnis fragt. Und weil VenezolanerInnen Spanisch sprechen und aus ähnlichen Verhältnissen kommen, gibt es weder Sprachprobleme noch kulturelle Missverständnisse.

Kostenlose Busse durch Ecuador

Lange konnte dieser informelle Arbeitsmarkt die MigrantInnen einfach aufsaugen. Jetzt scheint er an seine Grenzen gekommen zu sein. Vor allem in Kolumbien müssen die Geflüchteten aus dem Nachbarland immer schlechter bezahlte Arbeit annehmen, wenn sie überhaupt etwas verdienen wollen. Das führt zu Konflikten mit Einheimischen, die auf dem gesetzlich garantierten Mindestlohn bestehen und dann von ZuwanderInnen unterboten werden. In den Grossstädten wurden einheimische Prostituierte von VenezolanerInnen verdrängt, die ihre Preise unterboten – was die zunehmende Not der Geflüchteten zeigt. Ecuador hat in diesem Monat Zeltlager in Grenznähe eingerichtet, in denen MigrantInnen mit Essen versorgt werden. Kostenlose Busse transportieren die Flüchtenden von der Grenze mit Kolumbien zu der mit Peru.

Erst Anfang September schlugen die Regierungen der Aufnahmeländer Alarm. Bei einem Treffen in Ecuadors Hauptstadt Quito forderten sie die Unterstützung der Uno-Flüchtlingshilfe und internationaler Entwicklungsagenturen. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro forderten sie auf, endlich humanitäre Hilfe ins Land zu lassen, um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medikamenten zu verbessern. Maduro war zwar auch eingeladen, blieb dem Treffen aber fern. In einer Regierungserklärung aus Caracas heisst es, es gebe keine Flüchtlingskrise, «die Migrationsbewegungen sind normal». Diosdado Cabello, Vorsitzender der verfassunggebenden Versammlung und zweitmächtigster Mann hinter Maduro, nannte die Bilder der Flüchtlingstrecks «Fotomontagen».

US-Treffen mit Putschisten

Präsident Nicolás Maduro hat es oft behauptet, aber nie Beweise vorgelegt. Jetzt gab ihm die «New York Times», die gewiss keine Nähe zur Regierung Venezuelas hat, recht. Am Sonntag enthüllte die Zeitung geheime Treffen zwischen Abgesandten von US-Präsident Donald Trump und Offizieren der venezolanischen Armee, bei denen über einen Militärputsch gegen Maduro gesprochen wurde.

Die Treffen fanden zwischen dem Herbst vergangenen Jahres und diesem Frühjahr statt, der Putsch sollte zuerst im März stattfinden und wurde dann auf den 20. Mai verlegt – den Tag, an dem Maduro wiedergewählt wurde. Auch das zweite Datum verstrich, danach wurden mindestens zwölf der Verschwörer verhaftet. Man habe von den USA lediglich verschlüsselte Funkgeräte zur besseren Vorbereitung des Putschs haben wollen, sagte einer der Verschwörer der «New York Times». Aber nicht einmal diese habe man bekommen. Trumps Abgesandte wollten anscheinend nur wissen, was da läuft.