Kampf um Idlib: «Für drei Millionen Menschen steht alles auf dem Spiel»

Nr. 37 –

Mit Idlib will das syrische Regime den letzten grossen Rebellenstützpunkt im Land unter Kontrolle bringen. Die Sprecherin des Uno-Nothilfebüros über die Lage vor Ort, fingierte wie echte Chemiewaffenangriffe und den Mangel an dringend benötigten Spendengeldern.

Linda Tom, Ocha-Sprecherin

WOZ: Linda Tom, das Assad-Regime hat angekündigt, Idlib komplett zurückerobern zu wollen, das letzte von Rebellen kontrollierte Gebiet in Syrien. Derweil gehen im Hintergrund die Verhandlungen weiter: Letzte Woche haben Russland, der Iran und die Türkei in Teheran die Zukunft der Region diskutiert, auch der Uno-Sicherheitsrat legte eine Sondersitzung ein. Ist eine politische Lösung des Konflikts noch möglich?
Linda Tom: Das hoffen wir natürlich sehr. Doch in den mehr als sieben Kriegsjahren haben die verschiedenen Parteien immer wieder bewiesen, dass sie dazu nicht in der Lage sind. In Idlib, das im September 2017 zur Deeskalationszone erklärt wurde, leben zurzeit rund drei Millionen Menschen. Für sie steht alles auf dem Spiel. Vielleicht bewegt dieser Gedanke die Parteien endlich dazu, eine politische Lösung zu finden.

Ist die Opposition noch imstande, die Regierungskräfte abzuwehren?
Diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich kann jedoch mit Sicherheit sagen, dass eine nachhaltige Lösung des Konflikts einzig und allein unter der Leitung von syrischen Akteuren gefunden werden kann. Seit Kriegsbeginn hat die Anzahl der involvierten Parteien stetig zugenommen, was die Situation nur noch weiter verkompliziert hat. Und die Einmischung von Russland, den USA, Saudi-Arabien, dem Iran und der Türkei sowie militanter Gruppierungen hat den Konflikt in die Länge gezogen. Meiner Meinung nach sollten die Staaten ihren Einfluss besser dafür nutzen, zur Lösung des Konflikts beizutragen, anstatt sich an den Kämpfen zu beteiligen.

In den Verhandlungen mit der Europäischen Union war die Flüchtlingsfrage bisher Präsident Recep Tayyip Erdogans stärkste Trumpfkarte. Wird die Türkei ihre Grenzen für Flüchtlinge öffnen, falls es tatsächlich zur Schlacht um Idlib kommt?
Das müssen Sie die türkische Regierung fragen! Im Moment sieht es jedoch nicht danach aus. Die Türkei beherbergt bereits über 3,5 Millionen Geflüchtete aus Syrien, weit mehr als jedes andere Land. Zwei der Grenzübergänge zwischen der Türkei und Syrien – Bab al-Hawa und Bab al-Salameh – sind ausserdem offen für Hilfslieferungen unserer türkischen Partnerorganisationen.

Das syrische Regime und Russland verdächtigen die Rebellen, chemische Waffenattacken zu fingieren, um eine Intervention der USA zu erzwingen. Für wie wahrscheinlich halten Sie das?
Der Zugang zu Informationen im syrischen Bürgerkrieg ist sehr limitiert. Es ist also äusserst schwierig, an verlässliche Daten zu gelangen, weshalb die verschiedenen Organisationen untereinander Informationen austauschen. Es gab Fälle, in denen Falschinformationen bezüglich des Einsatzes von Chemiewaffen absichtlich verbreitet wurden, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Allerdings war auch schon das Gegenteil der Fall: dass der Einsatz chemischer Waffen im Nachhinein durch die Organisation für das Verbot chemischer Waffen bestätigt wurde. Im Grossen und Ganzen fordern jedoch die Bombardierung von Schulen und Spitälern durch Mörser- und Fassbomben sowie das ständige Geschützfeuer den grössten Tribut von der Zivilbevölkerung.

Die humanitäre Lage in Idlib spitzt sich derweil weiter zu. Bei den Luftangriffen vom Wochenende sind laut der oppositionsnahen Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte rund zwei Dutzend Zivilisten getötet worden. Wohin können die Menschen überhaupt noch fliehen?
Die Syrer haben mehrere Optionen, eine ist jedoch schlechter als die andere. Unseren Berechnungen zufolge hätte eine Eskalation der Kriegshandlungen die Vertreibung von rund 800 000 Zivilisten zur Folge. Diese Personen werden versuchen, innerhalb der Region in sicherere Gebiete umzusiedeln. Hinzu kommen schätzungsweise 100 000 Menschen, die in vom Regime kontrollierte Teile Syriens flüchten werden.

Über die Rückeroberung der Städte Aleppo, Daraa und Ostghuta durch das syrische Regime ist viel berichtet worden. Seit dem Ende der Kämpfe lesen wir jedoch kaum mehr etwas darüber. Was geschah mit den Vertriebenen und der verbleibenden Zivilbevölkerung?
Die humanitäre Situation variiert stark von Ort zu Ort. In Ostghuta beispielsweise ist die Zerstörung katastrophal. Basierend auf unseren humanitären Prinzipien, pochen wir immer auf das Grundrecht der Freizügigkeit: Die Bevölkerung sollte die Möglichkeit haben, nach der Flucht an ihren Wohnort zurückzukehren. In Ostghuta ist das nicht der Fall. Die evakuierten Personen wurden überdurchschnittlich oft kontrolliert, ihr Rückkehrrecht ist noch immer gefährdet.

Die 35 000 Menschen, die aus Ostaleppo evakuiert wurden, sind mehrheitlich auch nicht zurückgekehrt. Uns vorliegende Berichte zeigen zudem: Viele, die nach den Kämpfen in die Stadt gekommen sind, stammen gar nicht von dort. In Daraa hingegen war es den meisten der 300 000 Binnenflüchtlinge möglich, an ihren Wohnort zurückzukehren. Und in Homs konnte in einigen Vierteln bereits mit dem Wiederaufbau der Geschäfte begonnen werden, während in anderen Quartieren kein einziges Haus mehr steht.

Mit der Begründung, dass die Gelder in die Hände von Islamisten fallen könnten, reduzieren viele internationale Spender ihre Unterstützung für lokale Nichtregierungsorganisationen in Idlib. Spüren Sie das auch in Damaskus?
Wir arbeiten sehr eng mit Hilfsorganisationen in der Türkei und Jordanien zusammen. Die Unterstützung aus Jordanien ist im Juni tatsächlich eingestellt worden, was sich natürlich negativ auf unsere Möglichkeiten vor Ort auswirkt. Zurzeit benötigten wir 300 Millionen US-Dollar, um auf die Krise im Nordwesten des Landes reagieren zu können. Von diesem Ziel sind wir jedoch weit entfernt. Da wir dieses Jahr bereits auf derart viele Notfälle reagieren mussten, beispielsweise in Afrin und Ostghuta, gehen uns die Mittel aus. Und die Spender fragen sich, warum dieser Krieg so lange dauert.

Der russische Präsident Wladimir Putin hat die europäischen Staaten dazu aufgefordert, den Wiederaufbau Syriens finanziell zu unterstützen – mit der Aussicht, dass Millionen von syrischen Geflüchteten anschliessend in ihre Heimat zurückkehren können. Welche Rolle spielt Europa beim Wiederaufbau ?
Für einen Wiederaufbau ist die Zeit nicht annähernd reif. Millionen von Syrern mangelt es an praktisch allem, sie sind nach wie vor abhängig von Nothilfe. Der Wiederaufbau wird Milliarden kosten, wofür die Hilfswerke nicht gewappnet sind. Die Abwertung des syrischen Pfunds hat der Wirtschaft ausserdem enorm geschadet, und die Arbeitslosenrate ist in die Höhe geschnellt, was den Wiederaufbau des Landes zusätzlich erschweren wird.

Die Kanadierin Linda Tom (43) ist die Sprecherin des Uno-Nothilfebüros Ocha in Damaskus.