SGB-Präsidium: Schon wieder ein Mann!?

Nr. 37 –

Der Zentralvorstand der Unia brüskiert mit der frühen Einernomination des Waadtländer Staatsrats Pierre-Yves Maillard die Gewerkschaftsfrauen. Nach mehr als hundert Jahren Männerdominanz fordern sie eine Frau an der Spitze des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds.

Zwei durchsetzungsstarke potenzielle Präsidentschaftskandidatinnen: Die Nationalrätinnen Marina Carobbio und Barbara Gysi auf der Bundeshausterrasse.

Die Wut der Gewerkschafterinnen ist gross. Seit die Unia am 4. September Pierre-Yves Maillards Nomination zum Präsidenten des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB) bekannt gegeben hat, reisst die Kritik nicht ab. Hinter vorgehaltener Hand lassen Frauen ihrem Frust freien Lauf. Sie seien «konsterniert»: Wieder ein Mann! Nominiert von der mächtigsten Gewerkschaft der Schweiz. Das ist ein starkes Signal. Manche betrachten Maillard deswegen bereits als gewählt.

Dabei hatte sich die Unia-Frauenkonferenz für eine Frauenkandidatur starkgemacht. Und sie verabschiedete am 1. September mit hundert gegen zwei Stimmen eine Resolution: Nach zwanzig Jahren Männerpräsidium sei es Zeit für eine Frau. Doch der Zentralvorstand der Unia überging die Frauen. Selbst in der Pressemitteilung stand kein Wort über die Forderung. In derselben Mitteilung kritisierte die Unia dagegen die Steuervorlage 17 – die Maillard befürwortet. Und sie leitete einen Hinweis auf die Lohnungleichheitsdemo vom 22. September in Bern mit dem Satz ein: «Das Schneckentempo der Schweiz in Gleichstellungsfragen ist legendär.»

Die Wut der Gewerkschaftsfrauen richtet sich nicht gegen die Person des Waadtländer Staatsrats. Maillard unterscheidet sich in seinen politischen Positionen kaum von den anderen, die von der Findungskommission des SGB vorgeschlagen wurden: Barbara Gysi, Marina Carobbio und Mathias Reynard.

Die Zukunft ist weiblich

Maillard ist zweifellos ein starker Politiker, ihm eilt der Ruf des kreativen Machtmenschen und politischen Pragmatikers voraus. Dass der Romand als SGB-Präsident powern würde, daran zweifelt niemand. Er gilt als Linker, der den sozialen Ausgleich und den Service public verteidigt. Als SP-Nationalrat (1999–2004) trat der einstige Bundesratsanwärter gegen die Privatisierung öffentlicher Dienste und Staatsbetriebe an. Unia-Mitglied Maillard verkörpert allerdings auch eine vergangene Epoche, in der in den gewerkschaftlich organisierten Branchen fast ausschliesslich Männer arbeiteten. Er selbst war vor seiner Zeit in der Waadtländer Exekutive Gewerkschaftssekretär für die Industriegewerkschaft Smuv, die in der Unia aufgegangen ist. Sollte der Fünfzigjährige Ende November von den SGB-Delegierten gewählt werden, wäre das Gesicht des Gewerkschaftsbunds auf zehn oder fünfzehn Jahre hinaus erneut männlich – wie in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

Die Zukunft aber ist weiblich: Die «Wachstumsmärkte» für die Gewerkschaften sind Branchen, in denen in der Regel unterbezahlte, gewerkschaftlich kaum organisierte Frauen arbeiten, etwa im Reinigungsgewerbe. Dass die Gewerkschaften ihren Mitgliederschwund bremsen konnten, liegt nicht zuletzt daran, dass mehr Frauen eingetreten sind. Der VPOD, die Gewerkschaft des öffentlichen Dienstes, ist ein Beispiel. Dort sind inzwischen 53 Prozent der Mitglieder weiblich.

Vier Kritikpunkte

Hört man sich um, tauchen vier Kritikpunkte an der Unia und ihrem Kandidaten auf. Die Hauptkritik, für die Maillard nichts kann: die Einernomination eines Mannes. Zweitens: Maillards Eintreten für die Unternehmenssteuerreformen, die er im eigenen Kanton vorangetrieben und schweizweit vorweggenommen hat. Abgesegnet vom Stimmvolk und unterstützt selbst von der Unia in der Waadt, hat der Kanton den Unternehmenssteuersatz vereinheitlicht und von 22 auf rund 14 Prozent gesenkt. So sollen die schätzungsweise 20 000 Arbeitsplätze internationaler Konzerne in der Waadt abgesichert werden. Pierre-Yves Maillard kontert die Kritik an dieser Steuerpolitik im Gespräch mit der WOZ und verweist auf linke Erfolge in seinem Kanton. «Die Unternehmen müssen die tieferen Steuern mit sozialem Ausgleich bezahlen. Ich nehme Kritik gerne auf, wenn mir jemand eine bessere Lösung präsentiert.»

Maillard verweist darauf, dass die Kinderzulagen von 250 auf 300 Franken steigen; dass die Höhe der Krankenkassenprämien auf zehn Prozent des Nettoeinkommens eines Haushalts begrenzt wird – nächstes Jahr erhalten 39 Prozent der Haushalte Prämienverbilligungen; dass die staatlichen Zuschüsse für Kinderkrippen nahezu verdoppelt werden. «Die Abschaffung der fiskalen Sonderstatuten, gekoppelt an solche soziale Fortschritte, das sind zwei gute und konkrete Ergebnisse», sagt Maillard. Der welsche Kanton hat ausserdem etwa ein Ergänzungsleistungssystem für Familien und Übergangsrenten für Ausgesteuerte eingeführt. Gut für den Kanton Waadt, doch die Steuersenkung sende ein falsches Signal, sagen KritikerInnen. Die anderen Kantone sähen nur die tiefen Steuern. Ausserdem gebe man den Unternehmen nach, die mit Wegzug drohten. So begebe sich die Politik mehr und mehr in die Abhängigkeit der Konzerne.

Dritter Kritikpunkt: Würde Maillard gewählt, besetzten gleich vier Männer aus dem Kanton Waadt und dem Kanton Fribourg zentrale Stellen in der institutionellen Linken: Alain Berset als Bundesrat, Christian Levrat als SP-Präsident, Roger Nordmann als Chef der SP-Bundeshausfraktion – und neu Pierre-Yves Maillard als SGB-Präsident. Alles Kumpels, die Hinterzimmerpolitik betrieben, sagt einer. Vierter Kritikpunkt: Sollte Maillard SGB-Präsident werden, würde er wohl für den Nationalrat kandidieren. Die Wahl des populären Politikers gilt als sicher. Da würde sich allerdings ein Problem abzeichnen: Schafft die SP in der Waadt keinen zusätzlichen dritten Sitz, müsste womöglich die erst im Februar nachgerutschte Brigitte Crottaz mit der Abwahl rechnen.

Inzwischen hat sich das KandidatInnenfeld bereits gelichtet: Mathias Reynard erklärte am Dienstagabend seinen Verzicht. Dem Dreissigjährigen aus dem Unterwallis, der seit 2011 im Nationalrat politisiert, steht die Zukunft offen.

Das Rennen ist noch offen

Mit Barbara Gysi und Marina Carobbio stehen zwei durchsetzungsstarke Frauen für das Amt des SGB-Präsidiums zur Verfügung. Die Tessiner Ärztin Carobbio, die in ihrem Heimatkanton seit Jahren viel für die Gewerkschaften leistet, wird allerdings im November zur Präsidentin des Nationalrats gewählt. Daher ist noch offen, ob sie antritt. Auf Anfrage sagt sie: «Ich werde Ende dieser oder Anfang nächster Woche entscheiden.» Wahrscheinlich läuft es also auf eine Kampfwahl zwischen Barbara Gysi und Pierre-Yves Maillard hinaus. Gysi ist seit 1989 aktive Gewerkschafterin mit grosser politischer Erfahrung und gewerkschaftlich bestens vernetzt. Sie ist Mitglied in drei Gewerkschaften (VPOD, Unia, PVB), Gewerkschaftsbundpräsidentin im Kanton St. Gallen, seit 2012 Nationalrätin, seit 2016 Präsidentin des Personalverbands des Bundes (PVB) und Vizepräsidentin der SP Schweiz.

Gysi sagt: «Frauen haben eine andere Perspektive und eine höhere Sensibilität, wenn es um Gleichstellung geht. Als Präsidentin einer Stiftung im Behindertenbereich habe ich einen GAV für das Personal gepusht und unter anderem einen Vaterschaftsurlaub ausgehandelt. In diesen Fragen haben die Gewerkschaften noch Defizite. Daher halte ich die Wahl einer Frau für richtig.» Die Unterstützung der Gewerkschaftsfrauen ist Gysi sicher. Der VPOD wird demnächst nominieren: Allerdings entscheiden hier anders als bei der Unia die Delegierten, nicht der Vorstand. Sie werden wohl beide Frauen aufstellen, falls Carobbio überhaupt antritt.

Vergangene Woche hat sich auch die Frauenkommission des Gewerkschaftsbunds öffentlich und klar verlauten lassen: «Nach zwanzig Jahren Männerpräsidentschaft ist es Zeit für eine SGB-Präsidentin.» Knapp drei Monate vor dem Wahlgang ist das Rennen völlig offen. Gerade entfacht sich eine feministische Dynamik, die Maillard die Wahl kosten könnte.