Bertolt Brecht Festival: Wider das Gefühlige auf der Bühne

Nr. 38 –

Das Theater von Bertolt Brecht will zu eigenständigem Denken anstacheln. Wie das auch heute noch gelingt, erklärt Meret Hottinger, die in Chur das Festival BB18 mitorganisiert.

«Es geht uns nicht zuletzt darum, dem Zuschauer die Angst zu nehmen vor dem scheinbar Intellektuellen»: Meret Hottinger von der Digitalbühne.

WOZ: Meret Hottinger, was hat die Digitalbühne und das Theater Chur veranlasst, Bertolt Brecht zu seinem 120. Geburtstag gleich ein ganzes Festival mit mehreren Auftritten auf verschiedenen Bühnen zu widmen?
Meret Hottinger: Wichtiger als sein Geburtstag war die Uraufführung von Brechts «Antigone» im Theater Chur vor siebzig Jahren. Er hatte das Stück zusammen mit seiner Frau Helene Weigel erarbeitet. Es war das erste Stück, das sie nach 1933 aufführen konnten. Darin wurden Widerstandsformen und Handlungsoptionen verhandelt, die die Einzelne gegen Ungerechtigkeit und Missstände hat: Bin ich für mich alleine verantwortlich, oder kann ich mich mit andern zusammenschliessen – und wenn ja, wie? Das ist auch für uns heute wichtig, weshalb es am Festival gleich drei «Antigone»-Produktionen geben wird – unter anderem von der US-amerikanischen Performerin Ann Liv Young. Ihr Stück wird ein Schocker. Sie spürt die Auswirkungen der amerikanischen Politik gerade sehr konkret.

Ist Brecht für Sie also aus politischen Gründen heute noch relevant?
Ja, gerade auch mit Blick auf Amerika. Der Trumpismus macht insbesondere «Das Verhör des Lukullus» brisant, ein Radiohörspiel von Brecht über einen römischen Feldherrn, ursprünglich in Anspielung auf Hitler. Ntando Cele, die in der Neuinszenierung die Protagonistin spielt, befasst sich intensiv mit White Supremacy, der US-amerikanischen Variante des rassistischen Überlegenheitsgefühls. Das Publikum kann in diesem Livehörspiel direkt partizipieren und so den Ausgang der Geschichte beeinflussen. Uns geht es am Festival nicht zuletzt darum, dem Publikum Brechts Arbeitstechniken so näherzubringen. Viele Menschen fühlen sich politisch machtlos. Brecht hat Mittel erschaffen, um Menschen dazu zu befähigen, selbst zu denken und zu gestalten.

Was waren das für Techniken?
Zum Beispiel, sich als Schauspielerin nicht zu sehr in die Figur einzufühlen. Damit kann man verhindern, dass das Publikum in einer passiven Konsumrolle verharrt. Brecht hinterfragte, wie wir Gefühle auf der Bühne darstellen: Werden trockene Erzählpassagen eingebaut, distanziert man sich ein Stück weit von der Figur. Solche Handlungsbrüche ermöglichen es dem Publikum, sich zu überlegen, was da überhaupt verhandelt wird.

Aber bringt man so das Publikum dazu, aktiv zu werden?
Über das Verhältnis von emotionaler Distanz und Involvierung muss man sich bei jedem Stück wieder Gedanken machen. Es ist nicht so, dass man sich mit dieser Technik dem Affekt verwehrt. Den will man so intensiv wie möglich. Aber heute sind wir ständig umgeben von Reizen und Informationen. Man wünscht sich da geradezu, Dinge wieder einmal aus der Distanz zu betrachten, sich Zeit nehmen zu können, um Vorgänge zu analysieren. Im Affekt sind alle wahnsinnig schnell dabei, aber Gefühle verfliegen auch wieder sehr schnell. Deshalb hatte Brecht etwas gegen das Gefühlige auf der Bühne. Das Wichtigste war für ihn die Freundlichkeit. Sie beinhaltet eine gewisse Distanz. Wenn man freundlich ist, dann ist im Geist bereits etwas passiert.

Die Freundlichkeit fehlt online oft. Greifen Sie die ambivalente Rolle der digitalen Medien am Festival auf?
Ja, zum Beispiel in der Virtual Reality Experience «Galilei». Im Originalstück «Das Leben des Galilei» geht es darum, dass wissenschaftliche Beweise geliefert werden, aber niemand diesen glaubt. Auch heute beobachten wir eine Abwendung von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Brecht spielte auf den auch vor dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten Begriff der «Lügenpresse» an. Darin steckt auch eine populistische Selbstermächtigung, jedoch eine gefährliche. Hinzu kommt die Unvernunft, wie man Machthabern huldigt. Beim Virtual-Reality-Experiment kann der Spieler oder die Spielerin den Verlauf der Erzählung beeinflussen – ein Anspruch, den Brecht bereits an das Medium Radio hatte. Wie 1932 das neue Medium Radio von Beromünster mit Jugendlichen erforscht wurde, wollen wir auch unser Experiment mit Jugendlichen entwickeln.

Das tönt sehr pädagogisch – kommt das beim Publikum tatsächlich an?
Wer die Spielweisen von Ntando Cele, Ann Liv Young oder auch mir kennt, weiss, dass wir alles andere als einen pädagogischen Stil pflegen. Es geht uns nicht zuletzt darum, dem Zuschauer die Angst zu nehmen vor dem scheinbar Intellektuellen. Die Kunst ist, den Zuschauer abzuholen, wo er ist. Schon vor 1933 verbreitete sich das Gefühl, von einer «Elite» abgehängt zu werden. Deshalb waren diese ganzen Zusammenschlüsse so wichtig, wo sich Amateure und Professionelle abends trafen und gemeinsam Theater spielten und in Arbeiterchören sangen: um das Gefühl zurückzugewinnen, etwas bewirken zu können. Das klingt zwar blumig, aber es war ein Ermächtigungsinstrument, das mit viel Arbeit und viel Gefahr verbunden war. Widerstand ist gefährlich, auch heute noch. Und man muss extrem aufpassen, dass man nicht Verschwörungstheorien auf den Leim geht.

Meret Hottinger ist freischaffende Schauspielerin und Mitglied der Digitalbühne. Im Stück «Radio Lukullus» spielte sie Margarete Steffin, Autorin und Geliebte von Brecht. Alle BB18-Produktionen sind zu finden auf: www.bb18.org.