Durch den Monat mit Jürg Halter (Teil 4): Sie vergleichen sich mit Goethe?

Nr. 39 –

Der Berner Autor Jürg Halter hat kein Smartphone. Er will jedoch nicht vor der Zukunft kapitulieren und sieht neben den Gefahren, die die Digitalisierung mit sich bringt, auch die positiven Aspekte.

Jürg Halter: «Zuerst war die Überwachung, jetzt werden wir zusehends zur Selbstüberwachung genötigt.»

WOZ: Jürg Halter, in Ihrem neuen Roman «Erwachen im 21. Jahrhundert» rechnen Sie mit der Digitalisierung ab. Sie sind aber recht präsent in den sozialen Medien, ich denke da an Ihre «Kalendersprüche» auf Facebook …
Jürg Halter: Kalendersprüche? Ein lustiges Wort – Goethe hat ja auch Kalendersprüche kreiert.

Sie vergleichen sich mit Goethe?
Das haben jetzt Sie gesagt. Zumindest gibt es kaum einen Kalender ohne Goethe-Zitat. In meinem Fall sind das Beobachtungen, Reflexionen oder Notizen, die mir während des Zeitungslesens und Flanierens einfallen.

Wieso stellen Sie die in die sozialen Medien? Diese sind ja nicht gerade ein Ort für Reflexion, sondern eher für Empörung.
Das empfinde ich despektierlich gegenüber all jenen, die im Netz ein Forum gefunden haben. Die vielen hervorragenden Blogger, Podcast-Hosts, Onlinezeitungen, die wichtige Alternativen zu den Mainstreammedien bieten. Wir müssen um die Netzfreiheit kämpfen! Vor dem Netz zu kapitulieren, heisst, sich der Zukunft zu verweigern.

Haben Sie eigentlich ein Smartphone?
Nein. Ich versuche, eine Balance zu finden. Ich will nicht jederzeit die Möglichkeit haben, auf etwas zu reagieren. Und ich bin ja nicht alleine mit dieser Haltung. Die Netzaktivistin Katharina Nocun oder das Künstlerkollektiv !Mediengruppe Bitnik arbeiten mit digitalen Medien und weisen in ihren Arbeiten doch auch immer wieder auf die Gefahren von Zensur und Autonomieverlust hin. Man muss kennen, was man kritisiert.

Was meinen Sie mit Autonomieverlust?
Die Digitalisierung droht uns weiter zu entmündigen. Zuerst war die Überwachung, zusehends werden wir zur Selbstüberwachung genötigt. Prämienvergünstigen locken. Oder das bargeldlose Bezahlen, das den Kaufakt beschleunigt, damit wir immer weniger darüber nachdenken, was wir wirklich brauchen …

Ist umgekehrt das Netz nicht auch gerade ein enormes Hilfsmittel, um informierter und bewusster zu leben, gerade beim Einkaufen?
Das Gefühl habe ich weniger. Es geht hauptsächlich um Preisvergleiche. Leute gehen in einen Kleiderladen, schauen sich die Auslage an und bestellen danach im Netz. Und dann wundern sie sich, dass sich die Innenstädte immer mehr gleichen, da dort nur noch globale Ladenketten überleben können.

Vielleicht verschwindet auch einfach der unnötige Zwischenhändler? In der Musikindustrie waren es vor allem die Labels, die eingingen …
Sicher, es ist heute viel einfacher für junge Bands, ein Album zu produzieren. Aber an den grossen Konzernen kommen sie nicht vorbei, wenn sie die Musik auf iTunes, Soundcloud und Spotify vertreiben müssen – das ist einfach eine andere Abhängigkeit. Und die Livegagen haben sich auch geändert: Die grossen Acts verdienen immer mehr, die kleinen immer weniger, und das Mittelfeld bricht weg.

Ein Verschwinden des Mittelstands?
Die Schere geht auseinander. Warum sollte die Kultur davon ausgenommen sein? Und natürlich ist die Digitalisierung nur einer der Treiber, aber sie ist kein unwichtiger.

Sie klingen bei aller Kritik ambivalent.
Ich sehe die positiven Aspekte, aber ohne das Negative auszublenden. Und da ist viel Negatives. In meinem Roman erwacht die Hauptfigur Kaspar einmal in der chinesischen Stadt Shenzhen, in der der gläserne Bürger Realität ist: Jede Bewegung, jeder Gesundheitszustand, jede Zahlung wird registriert. An so einem Ort zensieren sich die Menschen freiwillig selbst, weil sie sich vor den Konsequenzen fürchten. Die perfideste Form von Zensur. Oder die Tatsache, dass man sich in den «social bubbles» nur noch mit Gleichgesinnten austauscht – auch das bedroht die Denk- und Redefreiheit.

War das am Stammtisch früher nicht auch so?
Zum Teil, aber die Anonymität enthemmt stärker. Vor einem physischen Gegenüber hat man mehr Respekt. Ein Kommentar ist oft getippt und veröffentlicht, bevor man fertig gedacht hat.

Es gibt Menschen, die sagen, sie diskutierten grundsätzlich nicht mehr im Netz.
Ich denke nicht schwarzweiss. Ich führe auch im Netz gute Diskussionen – man lernt zu unterscheiden, wer sachlich diskutieren und wer sich anderen gegenüber einfach nur moralisch überlegen zeigen will, um von der eigenen Bubble mit Likes belohnt zu werden.

Klingt auch wieder ambivalent.
Natürlich. Warum nicht? Fortschritt kann man nicht aufhalten. Man kann nur versuchen, seinen eigenen, bescheidenen Beitrag zu leisten, dass sich die Zukunft in die richtige Richtung entwickelt …

Was ist Ihr Beitrag?
Ich versuche, anderen Menschen mit Respekt zu begegnen und ihre Sichtweisen zu verstehen, bevor ich mich äussere. Anders formuliert: nicht nur die Schlagzeilen, sondern auch die Artikel zu lesen.

«Gegen Nazis zu sein, ist links, ist liberal und ist konservativ. Alles andere ist: für Nazis zu sein.» So lautet einer von Jürg Halters (38) «Kalender-sprüchen» auf Facebook im September.