Minderheiten im Film: «Wir brauchen Figuren, die weiterleben»

Nr. 39 –

Hollywood sieht sich bei der Besetzung von Figuren, die Minderheiten verkörpern, immer wieder starker Kritik ausgesetzt. Dass es hier nicht nur darum geht, wer vor der Kamera steht, sondern auch dahinter, erklärt Ledwina Siegrist, Verantwortliche für das Filmprogramm am Luststreifen-Festival.

«Für eine Transperson ist es ungleich schwerer als für eine homosexuelle, überhaupt gecastet zu werden»: Luana Muniz, Ikone der queeren Subkultur Brasiliens, in «Obscuro Barroco» (2018). Still: Tropical Underground

WOZ: Ledwina Siegrist, vor kurzem hat sich die Schauspielerin Scarlett Johansson nach Protesten der Trans-Community aus dem Filmprojekt «Rub & Tug» zurückgezogen, in dem sie einen Transmann gespielt hätte. Finden Sie das richtig?
Ledwina Siegrist: Ja. Gerade bei einer Rolle wie dieser, die explizit für eine Transperson geschrieben ist, sehe ich nicht ein, wieso sie nicht von einer solchen gespielt werden sollte. Scarlett Johansson hat damit zu einer Debatte beigetragen, die geführt werden muss. Heute ist es so, dass Cis-Personen, also Menschen, die sich mit dem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, grundsätzlich alle Rollen bekommen – egal ob diese cis oder trans sind. Transpersonen hingegen sind traditionelle Frauen- oder Männerrollen noch immer verwehrt. Solange sie diese nicht spielen können, sollten sie wenigstens für die wenigen Transrollen gecastet werden, die es gibt. Man macht es sich bei der Auswahl auch gerne zu einfach – Hauptsache, die Kasse ist gesichert. Johanssons Handeln hat Vorbildfunktion: dass grosse Stars bei solchen Rollenangeboten auch mal einen Schritt zurücktreten und Platz lassen für andere.

Im Fall von Ruby Rose, die selber offen homosexuell ist und für die Rolle von Batwoman, einer lesbischen, jüdischen Figur, ausgewählt wurde, genügte das offenbar nicht: Sie wurde im Netz dafür kritisiert, keine Jüdin zu sein – und nicht lesbisch genug.
Klar, man kann jetzt sagen, das ist total übertrieben. Aber darum geht es eigentlich gar nicht, sondern um etwas Strukturelles: Es werden heute vermehrt Fragen nach Repräsentation gestellt. Im Fall von Batwoman hätte ein jüdisches, lesbisches Mädchen die Chance auf eine doppelte Vorbildrolle gehabt: als Superheldin und als Schauspielerin. Mit der Kritik wird auch sichtbar gemacht, wie die Industrie funktioniert: dass Minderheiten, gerade bei einer Mehrfachdiskriminierung, oft nicht beachtet und nicht ernst genommen werden. Und dass es eine Veränderung braucht.

Trotzdem: Geht es denn wirklich um die eigene Erfahrung? Kann eine heterosexuelle Person gar keine homosexuelle Figur spielen?
Doch, schon. Aber um vom aktuellen Status quo wegzukommen, geht es erst mal darum, überhaupt Rollen mit queeren Menschen zu besetzen. Es ist ein Schritt in einer Entwicklung. Mir ist klar, dass das extrem klingt – aber es braucht diese Position, damit sich etwas bewegt, auch in den grossen Produktionsfirmen.

Inwiefern unterscheidet sich die Situation von transsexuellen und homosexuellen Schauspielerinnen und Schauspielern?
Für eine Transperson ist es ungleich schwerer als für eine homosexuelle, überhaupt gecastet zu werden. Die Körperlichkeit spielt eine grosse Rolle, weil die Körper von Transmenschen oft als nicht der Norm entsprechend empfunden werden. Wir haben es also mit einer zusätzlichen Form der Diskriminierung zu tun – und müssen deshalb noch sensibler sein. «Orange Is the New Black», die Kultserie über einen Frauenknast, war die erste TV-Produktion, in der eine Transrolle durch eine Transperson umgesetzt wurde. Das merkt man auch als Zuschauerin. Es braucht solche Rollen, die eine echte Identifikationsmöglichkeit bieten.

Ist das denn ansonsten nicht der Fall?
Es gibt viele übertriebene oder stereotypisierte Darstellungen. Da haben wir die Leidgeplagten, die Traurigen, die Sterbenden – oder die quietschenden Freaks in verrückter Kleidung, die Vamps, die Psychos. Diese Klischees werden auch bei homosexuellen Figuren bedient, wobei hier mittlerweile zum Glück eine grössere Vielfalt herrscht.

Sind diese Klischees auch auf Drehbuch und Regie zurückzuführen?
Absolut, die fehlende Diversität in der Produktion ist ein Problem: Es braucht auch bei der Regie oder beim Drehbuch andere Erfahrungswerte als bloss diejenigen von weissen, heterosexuellen Cis-Männern. Manche Leute glauben ja immer noch, Frauen könnten keinen Sex miteinander haben, da fehle doch was. Oder es kommen solche Filme raus wie «La Vie d’Adèle», eine einzige männliche Lesbenfantasie, aber kein Film für Menschen, die wirklich auf diese Weise begehren.

Sie sind seit sechs Jahren in der Programmation für das Luststreifen-Filmfestival. Wie wählen Sie Ihre Filme aus?
Wir versuchen natürlich, nicht in diese Fettnäpfchen zu treten. Wenn wir beim Publikum eine Reflexion, einen Moment des Sich-selber-Hinterfragens auslösen können, ist das eigentlich das Beste. Hauptsächlich geht es uns deshalb darum, mit gängigen Sehgewohnheiten zu brechen. Also Filme mit komplexen Figuren zu zeigen, mit vielfältigen Lebensentwürfen, Begehrensformen – die auch mal wegkommen vom Bild der ewigen romantischen Liebe. Und Filme mit queeren Figuren, die nicht leidgeplagt, traurig oder sterbend sind. Sondern mit solchen, die weiterleben.

Ledwina Siegrist, Luststreifen-Festival

Ledwina Siegrist (29) hat Gender Studies, Soziologie und Erziehungswissenschaften studiert, arbeitet bei Terre des femmes Schweiz und leitet die Filmprogrammation des Luststreifen-Festivals, das vom 26. bis 30. September an verschiedenen Orten in Basel stattfindet. www.luststreifen.com