Erwachet!: Der Weg zur Erkenntnis

Nr. 40 –

Michelle Steinbeck will das institutionalisierte Kulturkapital

Ich bin jetzt wieder Studentin. Vor zwei Wochen war Semesterbeginn; Zeit für eine Bilanz.

Montag, erster Tag: Ich liebe die Vorlesung. Nach zwanzig Minuten fallen mir die Augen zu. Ich muss mich ablenken und schaue mich im vollen Saal um: eine Armee von seltsamen Trinkflaschen. LED-beleuchtete Ufos mit aufploppendem Rohr, an denen geräuschvoll gesaugt wird, während am Flaschenboden Mineralsteine rumpeln. Ich reisse einen unökologisch verpackten Farmerstängel auf.

Mein Eifer ist immens. Ich bin wie der Alte mit dem Marx-Bart, der in jeder Vorlesung energisch nickend zuvorderst sitzt; der in der Cafeteria vor sich das Vorlesungsverzeichnis und einen leeren Bogen Papier ausbreitet, auf den er mit grossen Buchstaben «Bewegungspsychologie?» malt. Ich will alles belegen und wünsche mir Hermine Grangers Zauberuhr, dank der sie in Hogwarts mehrere Kurse gleichzeitig besuchen konnte. Begeistert sauge ich alles auf – bis ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass das die falschen Module sind, dafür krieg ich keine Punkte. Früher war mir das egal, aber nun will ich das institutionalisierte Kulturkapital und brauche – oje – diese Credits. Ich türme sie um mich auf wie Farmerverpackungen.

Abends winke ich den buckligen LangzeitstudentInnen hinterher, die hängenden Kopfes aus dem Sekretariat trotten, mit dem Bescheid, nicht mehr eingeschrieben zu werden. Ihre Fakultäten wurden zusammengestrichen, eine nach der andern fällt der Sparguillotine zum Opfer; Phil.-hist. rentiert sich nicht, wer noch etwas davon haben will, muss sich sputen. Zukunft sind die durchtrainierten Wirtschaftsjünglinge: «Wir haben nie Theorie gelesen, wir haben direkt mit Rechnen begonnen.»

Zweiter Tag: Ich fahre zur Uni, zu spät. Zum Tee habe ich noch den neuen Artikel eines engagierten Journi-Kollegen gelesen. Nun warte ich scharrend am Rotlicht und denke: Der macht gute Sachen, richtige, wichtige – und ich? Verbringe meinen Tag mit Aristoteles. Die nächsten acht Stunden verwese ich im dritten Stock eines traurigen Bürogebäudes der Helvetia-Versicherung, wohin vor wenigen Jahren das Philosophische Seminar umziehen musste. Während vorne die Leistungsnachweise in Form von Referaten abgestottert werden, stiere ich an die aggressiv rot gestrichene Wand, die eine unsägliche Patina aufweist, als hätte ein Dämon von Innenarchitekt Köpfe gegen die Wand gerammt, um allen, die ein so zukunfts- und ertragsloses Studium gewagt haben, zu zeigen, was ihnen auf dem Arbeitsmarkt droht.

Am Dienstagabend bin ich so fertig, ich fühle mich wie Freitag.

Am Freitag habe ich einen fröhlichen Bienenstockkopf, den ich mit Erwachsenensirup zum Verstummen zu bringen versuche. Zwischen mir und meinen Freunden liegen zwei Wochen Klassiker und Probleme der Theoretischen Philosophie. Normale Gespräche fallen mir schwer: «Was meinst du mit: du wüsstest das? Weisst du überhaupt, was Wissen ist? Und willst du wissen, woher das Wort ‹Mondkrater› kommt?» Mit schwerer Zunge versuche ich, meine Erkenntnisse der letzten Tage zu bündeln. Verzweifelt bringe ich schliesslich hervor: «Sokrates! Ich weiss, dass ich nichts weiss!» Die Freunde tätscheln mir mitfühlend die Wange.

Am Sonntag gibt es Youtube-Yoga mit Adrienne: «Reset». Dann bündle ich das Altpapier.

Michelle Steinbeck ist Autorin, Kuratorin und Redaktorin. Gerade tanzt sie ausgelassen mit dem Biest Bologna.