Fotografisch durch die USA: Eingefangene Schatten von Ideen

Nr. 40 –

Zwei Schweizer reisen mit der Kamera durch die USA unter Trump – und treffen auf nostalgische Figuren und irrwitzige Gedanken. Mit ihren Fotografien erzählen sie vom Zerfall einer gemeinsamen Öffentlichkeit.

Blicke auf die US-amerikanische Enttäuschung von Pierluigi Macor (links) und Ludovic Balland (rechts).

Der grosse Reiter liegt als Schatten über der Landschaft – ein dunkler, ungenau gezeichneter Cowboy vor einer weiten Ebene. Wolken drängen dunkel über den Himmel, links unten steht ein Pferd wie eine Statue beim Flüsschen. Die Aufnahme hat etwas Ikonisches: der breite Hut des Reiters, sein Blick auf die Ebene und auf einen Zaun, der das Diesseits, den Besitz und die Grenze zur Wildnis markiert. Der Cowboy ist eine doppeldeutige Figur: eine Gestalt aus der Vergangenheit, nostalgische Erinnerung, aber auch eine Identitätsfigur, deren Freiheitsversprechen bis heute nachwirkt und deren Männlichkeitsattitüde und Umgang mit Waffen die Gegenwart prägen. Ausserdem ist der Cowboy, der irgendwo in der Mitte dieser langen, wundervoll lakonischen Erzählung durch den Bildausschnitt von Pierluigi Macor reitet, ein schlichter, harter Arbeiter.

Macor ist Schweizer, er reist durch fremde, oft befremdliche Teile der USA, hat einen Blick für Spiegelungen und Strukturen. «Bowie, Texas» heisst seine Serie, und von Beginn an ist klar: Ohne Cowboy würde sie nicht funktionieren.

Reallöhne und Abschlussquoten

«I was a paperboy», sagt der Kulturhistoriker Charlie Scheips. Er reitet durch keine texanische Ebene, sondern sitzt auf einem Balkon in New York. Auch ihn hat ein Schweizer fotografiert und interviewt: Ludovic Balland ist 2016 ein halbes Jahr durch die USA gefahren, hat zufällig Menschen getroffen und sie nach dem befragt, was ihnen von den Nachrichten des vergangenen Tages geblieben ist. Er hat sie gefragt, wie sie lesen, schauen, hören. Und ohne dass Balland zu sehr darauf gedrängt hätte, erscheint in diesem ersten Interview der Zeitungsausträger – lange bevor es um Trump, Clinton und die Mechanismen von Sensation und Nebensächlichem geht.

Die ebenfalls nostalgische Figur des «paperboy» steht für den kindlichen Kleinverdienst, für den man vom Rad aus Zeitungen – den Blick auf die Welt – verteilt. Aus ihr wächst man heraus, sie bewegt sich auf einem anderen Feld als der Cowboy. Der Kulturhistoriker Scheips weiss, dass er fast nur noch in die Vergangenheit blickt – es ist einer dieser «altmodischen amerikanischen Jobs, die keiner mehr macht».

Gut eineinhalb Jahre nach dem Amtsantritt einer narzisstischen Fernsehfigur als Präsident kann man diese beiden Reisen von Fremden nebeneinanderlegen. Beide scheinen Gedanken des Reporters George Packer zu unterfüttern, der einen tief gehenden Kulturwandel in den USA beobachtet. Mit dem Übergang von der Fertigungs- zur Finanzindustrie habe eine grosse Abwicklung stattgefunden: «Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.»

Wie vielfach beschrieben wurde, zeigt sich dieses Geld in New York anders als in Texas. Allerdings stagnieren schon seit Ende der siebziger Jahre Reallöhne und Abschlussquoten der Universitäten, die Industrieproduktion wurde zunehmend in Billiglohnländer verlagert. Der Kapitalismus wurde zu einem weltumspannenden Netz – in dessen Zentrum die US-amerikanische Finanzindustrie, die heute doppelt so gross ist wie der gesamte Fertigungssektor des Landes.

Die GesprächspartnerInnen von Balland, denen er durch Städte und hinaus aufs Land folgt, merken das. Durch ruhige Unterhaltungen sickert der irrwitzige Zusammenhang zwischen Grundsteuern und Schulfinanzierung – und Ängste, dass Hillary Clinton als Präsidentin vielleicht das Grundrecht abgeschafft hätte, einen Nächsten fast straffrei erschiessen zu können. Viele GesprächspartnerInnen schöpfen Gelassenheit aus der Erkenntnis, dass Lokalpolitik oft wichtiger ist als der Präsident.

Bei Balland ergeben diese Geschichten einen steten Strom. Man schliesst den fantastisch gestalteten Band, der als Monument für die Zeitungskultur daherkommt, mit dem Gefühl, selbst eine längere Reise unternommen zu haben. Man hat das Gefühl, bei zwanglosen Gesprächen mit lustigen oder interessanten Leuten dabei gewesen zu sein. Nur eine zusammenhängende Öffentlichkeit, die diskutiert, eingreift und korrigiert, gibt es nicht mehr. Genau hier kommuniziert Ballands Band mit Macors Bildern. Diese entwerfen keine Fläche, sondern umkreisen ein Zusammenspiel: Kulturelle Armut, Bigotterie, Freiheitssehnsucht, Weltfremdheit, Verlassenheit spiegeln sich in Topografie, Architektur, Städtebau.

Zeit, sich umzublicken

Karstige Landschaften bergen noch Schatten von Ideen, Bauten, Wahnwitz. Zeichenhaft entleerte Garagenfronten reihen sich. Zuletzt müde, enttäuschte Gesichter: Vermutlich wissen ihre BesitzerInnen, dass alle grossen texanischen Städte ausser Fort Worth demokratisch regiert werden. Haben davon gehört, dass in Houston – eine der sozial, ethnisch und religiös facettenreichsten Städte des Landes – auf die erste lesbische Bürgermeisterin der zweite Schwarze im Amt folgte und Trump im Bundesstaat nur 52 Prozent der Stimmen holte.

Vielleicht blicken wir also in Gesichter, die jeden Tag die Enttäuschung spiegeln, vom Versprechen des amerikanischen Traums hintergangen worden zu sein. Dazu kommen eine miserable Gesundheitsversorgung, katastrophale Bildungsinstitutionen und das Gehetze zwischen schlecht bezahlten Jobs. Dazwischen bleibt ihnen entweder nicht viel Zeit, um sich lange umzublicken, oder viel zu viel. Würde Macor ihnen die Aufnahme mit dem Cowboy zeigen oder Scheips ihnen von seiner Vergangenheit als Paperboy erzählen, kann man sich vorstellen, wie sie lächelnd sagen würden: «Oh, that’s great.»

Pierluigi Macor: Bowie, Texas. Edition Patrick Frey. Zürich 2018. 180 Seiten. 60 Franken

Ludovic Balland: American Readers at Home. Verlag Scheidegger & Spiess. Zürich 2018. 548 Seiten. 75 Franken