Kino-Film «Lazzaro felice»: Ein Märchen, entzaubert

Nr. 40 –

Man verwendet die Metapher von den fremden Welten, in die uns das Kino entführt, viel zu oft. Wie verbraucht und abgestanden die Formulierung ist, merkt man bei einem Film wie «Lazzaro felice». Denn Alice Rohrwacher gelingt in ihrem dritten Spielfilm genau das: Sie entführt uns in eine Welt, in der wir uns nicht auskennen, weshalb wir nie wissen, was als Nächstes passiert. Ihr Film ist aber keine Zirkusnummer, in der Häschen aus Zylindern gezogen werden, sondern bleibt in gewisser Weise so bodenständig und unverstellt wie die hinterwäldlerischen DorfbewohnerInnen, von denen er handelt.

In der ersten Hälfte sieht man, wie diese scheinbar verwunschene Gemeinschaft tief in der italienischen Provinz ein Leben wie noch zu feudalen Zeiten führt. Zwischen kahlen Felsen fristet die kleine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern ein karges, bäuerliches Dasein. Sie werden von einer Gräfin ausgebeutet, die sie, so reimt man es sich aus überhörten Dialogfetzen zusammen, durch Verschuldung in einer Art Leibeigenschaft hält. Unter ihnen gibt es einen, der nie klagt und den sie deshalb für jede Art von Handlangerdienst anrufen: Lazzaro! Nie widerspricht er, dieser sanftmütige junge Mann (mit seelenvollen Augen und charmanter Ungelenkigkeit verkörpert von Laiendarsteller Adriano Tardiolo). Auch dem Sohn der Gräfin nicht, der eine zu Beginn sehr einseitig erscheinende Freundschaft mit ihm anfängt. Aber dann kommt tatsächlich alles anders, als man denkt.

Es gibt Vollmondnächte, einen geheimnisvollen Wolf, und dem ausbeuterischen Treiben der Gräfin wird unversehens das Handwerk gelegt. Die Zeit vergeht, aber Lazzaro altert nicht – auch nicht, als der Film seinen Schauplatz vom Land in die Stadt verlegt. Mehr soll nicht verraten werden, weil das Staunen darüber, wie selbstverständlich Rohrwacher ihre Übergänge von Märchen zu Neorealismus zu Parabel gestaltet, den grossen Reiz dieses Films ausmachen. Unschwer als Nachfahrin von Pier Paolo Pasolini und Federico Fellini zu erkennen, findet sie dabei ihre ganz eigene Tonart.

Lazzaro felice. Regie und Drehbuch: Alice Rohrwacher. Italien/Frankreich/Schweiz/Deutschland 2018