Kost und Logis: Wie schlimm steht es um die Welt?

Nr. 40 –

Ruth Wysseier auf der Suche nach positiven Nachrichten

Nach intensiven Arbeitswochen in der Weinlese komme ich plötzlich auf absonderliche Gedanken: Ich frage mich, ob womöglich gar nicht alles immer nur schlimmer wird auf der Welt – und bin alarmiert. Leide ich an Realitätsverlust oder beginnender Senilität? Oder liegt es daran, dass ich einen Monat weitestgehend ohne Medienkonsum lebte? (Ja, auch die WOZ liess ich links liegen, einzige Ausnahme war Bettina Dyttrichs Reportage über das Grosse Moos, das in meiner Nachbarschaft liegt). Das Newsportal «Watson», das ich sonst oft zum Morgenkaffee schlürfe, nahm ich höchstens aus dem Augenwinkel wahr, wobei mir trotzdem auffiel, dass einmal drei von sechs Bildschlagzeilen das Wort «Trump» enthielten. Wenn das «Echo der Zeit» seine Beiträge über Hunger, Korruption und Krieg ankündigte, wechselte ich zum schrägen jurassischen Musiksender Grrif. Klar ist das Eskapismus, aber bei so langen und anstrengenden Arbeitstagen war einfach kein Platz für eine tägliche Dosis Empörung und Katastrophen.

Am letzten Wochenende dann der Wiedereinstieg: «Bund», WOZ, «Magazin», «Work», «NZZ am Sonntag». Selektives Blättern. Der erste Titel, an dem ich hängen bleibe: «Die Welt wird immer besser», eine Besprechung von Steven Pinkers «Aufklärung jetzt» in der NZZ-Buchbeilage. Pinker sagt ganz einfache Dinge und trifft damit meine Stimmung: Vernunft und Mitgefühl bringen Fortschritt und fördern das Wohlergehen der Menschheit, darum müssen wir sie verteidigen. Er belegt, dass weltweit die Lebenserwartung steigt, die medizinische Versorgung sich verbessert, die Armut abnimmt. Er erklärt, weshalb trotzdem viele Menschen glauben, dass alles immer schlimmer wird, und wie die Medien uns permanent in Schrecken versetzen und gegen positive Entwicklungen immunisieren.

Zurück zu den Zeitungen, auf der Suche nach einer besseren Welt: 20 000 Menschen demonstrierten am 22. September in Bern für Lohngleichheit, die WOZ spricht von der «grössten feministischen Demo seit 1991». In einer Bildgeschichte zum Landesstreik 1918 erfahre ich, dass damals bis zu 59 Stunden pro Woche gearbeitet wurde und es weder Ferien noch eine Altersrente gab. Ziemlich viel Fortschritt seither, auch wenn es noch viel zu verbessern gibt.

Die UBS, deren Geschäftszweck ist, mit dem Geld der Reichen Geld zu verdienen, finanziert die Einschulung von 800 Mädchen in Indien – und vermarktet sich als Entwicklungshelferin. Die Bank plant, fünf Milliarden Franken im Engagement für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz anzulegen, weil ihre Kundschaft Anlagen mit einem gesellschaftlichen Nutzen verlange. Ist das zynisch? Ist das Fortschritt? Zweimal ja.

Ich nehme mir vor, meine Ohren künftig öfter vor dem Nachrichtengetöse zu verschliessen, Pinkers Buch zu lesen und auf jeden Fall nächstes Jahr am 14. Juni am Frauenstreik dabei zu sein.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.