Asylsuchende Frauen: «Ich kannte meine Rechte nicht»

Nr. 41 –

Frauen, die vor geschlechtsspezifischer Gewalt in die Schweiz fliehen, haben hier theoretisch Anspruch auf Schutz. Die Realität sieht jedoch anders aus.

So unterschiedlich die Geschichten von Ghazal Shirazi und Nura Omar sind, sie haben eine Gemeinsamkeit. Beide Frauen sind in Männergesellschaften aufgewachsen, in einem patriarchalen System, das ihnen keinen Platz einräumte.

Nura Omar (Name geändert) stammt aus der somalischen Stadt Baidoa, in ihrer Kindheit bekämpften sich dort Rebellen, Islamisten und Regierungstruppen, es herrschte ein Bürgerkriegsinferno. Dass sie heute in der Schweiz lebt, hat sie ihren Eltern zu verdanken, die sie mit siebzehn Jahren nach Europa schickten. «Sie wollten eine bessere Zukunft für mich», sagt die heute 27-Jährige in einem Café am Bieler Bahnhof. In Somalia lebte Nura Omar hinter Blech, die Welt betrachteten sie und ihre Schwester durch die Einschusslöcher in ihrer Hütte. Die Familien hätten ihre Mädchen versteckt, erzählt Omar. «Auf der Strasse war es für uns zu gefährlich, man musste immer Angst haben, von einem Kämpfer entführt oder vergewaltigt zu werden.»

Nura Omar kam 2008 in die Schweiz. Seit diesem Jahr erkennt die Schweiz frauenspezifische Fluchtgründe in der Praxis als Asylgrund an. Doch um die Rechte von asylsuchenden Frauen steht es nach wie vor schlecht – darauf macht eine Kampagne aufmerksam, die die Frauenrechtsorganisation Terre des femmes Schweiz in diesen Tagen lanciert. «Der Begriff des Flüchtlings ist bis heute männlich konnotiert», sagt Simone Eggler, Spezialistin für geschlechtsspezifische Gewalt bei Terre des femmes. «Hier liegt das Grundproblem, das sich in allen Bereichen auswirkt, ob beim Asylverfahren, bei der Betreuung oder beim Zugang zu psychologischer Unterstützung.»

Glaubwürdigkeit wird angezweifelt

Tatsächlich sind frauenspezifische Fluchtgründe in der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 nicht existent. Entsprechend lange dauerte es, bis die Schweiz diese anerkannte. Im schweizerischen Asylgesetz sind sie seit 1998 verankert. Doch es dauerte weitere zehn Jahre, bis das damals zuständige Bundesamt für Migration die neuen Bestimmungen in der Praxis umsetzte und in seinem Handbuch für Asylverfahren ein entsprechendes Kapitel erarbeitete. Zu den frauenspezifischen Fluchtgründen, die das Staatssekretariat für Migration (SEM) heute anerkennt, zählen drohende weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsheirat, sexuelle Übergriffe, Ehrenmorde, sexuelle Orientierung, häusliche Gewalt, geschlechtsdiskriminierende Gesetzgebung und die Einkindpolitik. Das bedeutet allerdings nicht, dass entsprechenden Asylgesuchen auch stattgegeben wird.

Leicht wird es Frauen wie Nura Omar nicht gemacht. Wer etwa im Herkunftsland von Zwangsheirat bedroht ist, erhält in der Schweiz noch lange nicht automatisch Asyl. Die Behörden stellen zahlreiche Zusatzbedingungen: Die betroffene Frau muss zum Beispiel nachweisen, dass es innerhalb ihres Heimatlands keinen Schutz gibt. Damit das SEM den Fall als asylrelevant einstuft, muss die Behörde die Verfolgung zudem als so «intensiv» einstufen, dass «nach Berücksichtigung der gesamten in einer bestimmten Gemeinschaft geltenden Regeln ein Minimum an persönlicher Entfaltung der Menschenwürde nicht mehr möglich ist». Wann diese Bedingungen erfüllt sind, ist Auslegungssache. Eine grosse Hürde für die Frauen ist die repressive Grundhaltung der Behörden, deren BefragerInnen in erster Linie dazu ausgebildet sind, Ungereimtheiten aufzudecken. «Die Frauen scheitern oft an der Glaubwürdigkeitsprüfung», sagt Eggler. «Aufgrund von Traumatisierungen sind manche nicht in der Lage, ihre Geschichte kohärent zu erzählen. Das wird ihnen dann zum Verhängnis.»

Doch die Probleme beginnen meist schon früher, dafür ist Nura Omar das beste Beispiel. «Ich kannte meine Rechte nicht», sagt Omar, die heute als Dolmetscherin arbeitet. Interviewt wurde sie als junge Asylsuchende von einem Mann, die Übersetzerin sprach nur Standardsomali, eine Sprache, die Nura Omar schlecht beherrscht. Auf ihrer Flucht aus Somalia hatte Omar traumatische Erfahrungen gemacht, über die sie bis heute mit niemandem gesprochen hat. Auch über die Angst vor Entführungen und Vergewaltigungen sprach sie bei der Befragung nicht. Ihr sei das Interview damals vorgekommen wie ein Verhör, sagt Omar. Aus Angst habe sie einfach versucht, die Fragen möglichst zufriedenstellend zu beantworten. «Sie haben mich gefragt, in welchen Gegenden von Baidoa die Spitäler stehen, wie die Quartiere der Stadt heissen, wer die Anführer der Clans waren, lauter Dinge, die ich nicht wusste, weil ich das Haus nicht verlassen habe.» Omars Asylgesuch wurde abgelehnt, sie erhielt nur eine vorläufige Aufnahme. Rekurs legte die junge Frau aus Unwissenheit nicht ein.

Gemäss Richtlinien des SEM haben Frauen einen Anspruch auf eine gleichgeschlechtliche Befragerin, wenn sie in der Ersteinvernahme Hinweise auf Gewalterfahrungen geben. Wie systematisch die Frauen in den Verfahrenszentren über dieses Recht aufgeklärt werden, lässt sich nicht eruieren. Doch eine Studie von Terre des femmes aus dem Jahr 2012 lässt die Vermutung zu, dass frauenspezifische Fluchtgründe zumindest erstinstanzlich oft nicht sorgfältig abgeklärt werden. Terre des femmes hat 27 Fälle untersucht, die ans Bundesverwaltungsgericht weitergezogen worden waren. Das Gericht gewährte in drei zuvor negativ entschiedenen Fällen Asyl und in sieben Fällen eine vorläufige Aufnahme, zehn Fälle wies das Gericht wegen mangelnder Abklärung an die Behörden zurück. Das SEM sagt auf Nachfrage, die Studie sei nicht repräsentativ, die Fälle willkürlich ausgewählt. In einer eigenen Studie aus dem Jahr 2005 weist die Behörde darauf hin, dass die Anerkennungsquote von Frauen markant höher liegt als die von Männern. Der Situation von Frauen werde im Verfahren Rechnung getragen, die MitarbeiterInnen würden ständig in Weiterbildungen sensibilisiert.

Der Zwischenfall mit dem Hund

Ghazal Shirazis Fluchtgründe wurden gar nicht erst einzeln abgeklärt. Sie reiste vor zwei Jahren ihrem Mann aus dem Iran nach. Das gemeinsame Asylgesuch wurde abgelehnt, weil der Fluchtgrund nicht für politisches Asyl ausreicht: ein eskalierter Nachbarschaftsstreit. Im Haus hätten viele Religiöse gelebt, der Nachbar sei ein islamischer Fundamentalist mit Verbindungen zum Regime gewesen, erzählt Ghazal Shirazi. Sie, die weltlicher orientiert seien, hätten schon länger Streit mit ihm gehabt. Am schiitischen Aschura-Fest schliesslich entwischte ihrem Mann der (im Iran verbotene) Hund, er rannte in eines der Festzelte: Ein Riesentumult entstand. Der Hund rannte auf die Strasse und wurde überfahren, ihr Mann brüllte die Gläubigen wütend an. «Du kannst im Iran ein ganz normales Leben führen», sagt Ghazal Shirazi. «Und plötzlich passiert ein Erdbeben. Mein Mann hatte Angst, ins Gefängnis gesteckt zu werden, im Iran gibt es keine Rechtssicherheit.»

Mit der Flucht ihres Mannes bricht Ghazal Shirazis eigene Geschichte wieder auf: Die 35-Jährige hat Narben auf dem Unterarm. Sie sagt, sie stammten von erhitzten Löffeln, die ihr ihre Mutter zur Züchtigung auf die Haut gedrückt habe. Mit 13 wurde die Iranerin zwangsverheiratet, mit 14 gebar sie einen Sohn. Sie konnte sich später scheiden lassen und sich neu verheiraten. Als ihr Mann aus zweiter Ehe flüchtet, bleibt sie mit der gemeinsamen Tochter zurück. Das Leben wird ihr erneut zur Hölle gemacht. Von ihrer eigenen Familie, die nicht akzeptiert, dass sie alleine lebt. Vom Nachbarn, der droht, ihr das Kind wegnehmen zu lassen, wenn der Mann nicht zurückkehre. Er habe sie auch geschlagen, sagt Shirazi. «Und mir angedroht, mich zu vergewaltigen.»

Weil die Schweiz kein Rückübernahmeabkommen mit dem Iran hat, leben Ghazal Shirazi und ihre Familie inzwischen in einer Notunterkunft, von acht Franken pro Tag – «Nothilfe». Die Psychotherapie, die sie vor dem Negativentscheid anfangen konnte, musste Shirazi abbrechen. Dass zumindest ihre vierjährige Tochter, die seit der Flucht über die Türkei und das Mittelmeer schwer traumatisiert ist, Hilfe bekommt, dafür hat die Mutter lange gekämpft.

Gesetzeslücke Opferhilfe

AsylbewerberInnen und abgewiesene Asylsuchende haben in der Schweiz nur ungenügend Zugang zu psychiatrisch-psychotherapeutischer Versorgung, wie Janis Brakowski, der an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich den Bereich Migrationspsychiatrie leitet, bestätigt. Es mangle an entsprechend spezialisierten Einrichtungen, sagt er. Doch das sei nicht das Hauptproblem: «Untersuchungen belegen, dass es den Frauen vor allem an Informationen, Wissen und niederschwelligen Hilfsangeboten fehlt.» In den Erstaufnahmezentren steht Flüchtlingen nur das Mindestmass an gesundheitlicher Betreuung zu. Später, in den Kantonen, ist es an den BetreuerInnen der Durchgangszentren, psychische Belastungen und Traumata zu erkennen und die Betroffenen entsprechenden Einrichtungen zuzuweisen. «Dafür fehlen aber oft das nötige Wissen und die Zeit», sagt Simone Eggler von Terre des femmes. Dazu kommt, dass Frauen, die im Herkunftsland oder auf der Flucht Opfer von Gewalt wurden, nicht unter das Opferhilfegesetz fallen, sie haben damit keinen Zugang zu Beratungen, Therapien und anderen Unterstützungen, die von der Opferhilfe finanziert werden. «Es liegt im Ermessensspielraum der einzelnen Stellen, den Frauen ein Gespräch anzubieten», sagt Angela Falk von der Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern in Bern. «Wenn der Opferhilfestatus unklar ist, können die Frauen für 21 Tage stationär in einem Frauenhaus aufgenommen werden. Mehr liegt gesetzlich nicht drin.»

Die Schweiz hat sich mit der Ratifizierung des Istanbul-Abkommens verpflichtet, Frauen diskriminierungsfrei vor Gewalt zu schützen. Der Nationalrat hat deshalb vor zwei Jahren ein Postulat von SP-Nationalrätin Yvonne Feri überwiesen, das die Prüfung einer Ausweitung des Opferhilfegesetzes auf geflüchtete Frauen verlangt. Mit dem Vorstoss wurde der Bundesrat zudem beauftragt, die Betreuungssituation von Frauen in den Asylunterkünften zu untersuchen, die heute nur in einzelnen Unterkünften separat betreut werden. Die Berichte werden nächstes Jahr erwartet.

Ghazal Shirazi sagt: «Ich wollte ein besseres Leben für mich und meine Tochter, jetzt vegetieren wir hier einfach vor uns hin, wie Tiere.» Nura Omar hat inzwischen eine Aufenthaltsbewilligung. Sie hat geheiratet und drei Kinder geboren. Sie ist zufrieden. «Doch ich musste mir das alles selber erkämpfen.»