Wolfgang Kaleck: «Wir zielen immer auf die Spitze»

Nr. 41 –

Ob gegen Donald Rumsfeld, Nestlé oder an der Seite von Edward Snowden: Der Berliner Anwalt Wolfgang Kaleck vom European Center for Constitutional and Human Rights hat keine Angst, die Mächtigen der Welt zur Verantwortung zu ziehen. Ein Gespräch über die globale Situation der Menschenrechte und die kommende SVP-Initiative.

Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck: «Es droht die Barbarei.»

An der Tür zu Wolfgang Kalecks Büro hängt das Plakat von «Citizenfour», dem Film über den Whistleblower und Bürgerrechtler Edward Snowden. Kaleck ist Snowdens Anwalt in Europa. Er kann den Stolz nicht ganz verbergen, dass Snowden das Vorwort zu seinem Buch «Mit Recht gegen die Macht» geschrieben hat, das soeben auf Englisch erschienen ist. Snowden schreibt darin: «Die Geschichte unserer Gegenwart wird nicht nur von den Folterern und ihren Verteidigern geschrieben, sondern auch von jenen, die niemals aufgeben, für die Erklärung der Menschenrechte zu kämpfen.»

Die Beschreibung trifft auf Kaleck zu. Als Rechtsanwalt setzte er sich in Deutschland jahrelang für Opfer von rechtsextremer Gewalt ein. International bekannt wurde er dann mit einer Klage, die er für das New Yorker Center for Constitutional Rights gegen den früheren US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einreichte. Nach dem New Yorker Vorbild hat Kaleck vor zehn Jahren das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin gegründet.

Hier im Dachstock eines alten Berliner Fabrikgebäudes laufen die Fäden aus aller Welt zusammen. Längst geht das ECCHR nicht mehr nur gegen Kriegsverbrecher vor, sondern nimmt auch Grosskonzerne ins Visier. So verklagten Kaleck und seine KollegInnen in der Schweiz Nestlé wegen Unterlassung, nachdem ein kolumbianischer Gewerkschafter von Paramilitärs erschossen worden war.

Der 58-Jährige sitzt mitten im Gewusel des Zentrums und spricht über seine Arbeit, die Menschenrechtssituation weltweit und die kommende SVP-Initiative.

WOZ: Wolfgang Kaleck, wenn man einen so mächtigen Zeitgenossen wie den ehemaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld vor Gericht bringen möchte: Wie stellt man das an?
Wolfgang Kaleck: Angefangen hat die ganze Arbeit für mich 1998 mit den Fällen gegen die argentinischen Militärs. Wir haben in der sogenannten Koalition gegen Straflosigkeit deutsch-argentinische Mütter vertreten, deren Kinder vom Militär entführt oder ermordet worden waren. Die Aussicht auf Erfolg war seinerzeit nicht besonders hoch. Wir sind aber davon ausgegangen, dass die Forderung nach Wahrheit und Gerechtigkeit unabhängig vom juristischen Erfolg erhoben werden muss. Nach fünf Jahren wurden in Deutschland tatsächlich Haftbefehle und Auslieferungsgesuche gegen ehemalige Mitglieder der Militärjunta erlassen. Mit einer solchen Erfahrung im Rücken lässt sich dann auch jemand wie Donald Rumsfeld leichter verklagen.

Rechneten Sie sich Chancen aus, dass er verhaftet wird?
Auch bei dieser Strafanzeige habe ich mich anfänglich nicht für die Frage interessiert, wie hoch die Chance ist, dass er angeklagt wird. Alle fanden es schrecklich, wie im Irak mit den Kriegsgefangenen umgegangen wurde. Doch den wenigsten war bewusst, dass die USA nur die niedrigrangigen Militärs vor Ort zur Verantwortung zogen – «das dreckige Dutzend», wie Expräsident George W. Bush sie nannte. Daher war es schon wichtig, die Planung der Folter im Gefängnis von Abu Ghraib auf höchster Ebene zu dokumentieren und juristisch zu bewerten.

«Menschenrechtsverletzungen haben oft politökonomische Ursachen. Transnationale Konzerne spielen dabei eine massgebliche Rolle»: Vom Büro in Berlin-Kreuzberg aus unterstützen Wolfgang Kaleck und seine MitarbeiterInnen vom ECCHR den Kampf für Menschenrechte rund um den Globus.

Sie wollten mit der Klage die Systematik der Folter belegen.
Viele Regierungen, ob demokratisch oder autoritär, haben gelernt, dass sie sich dem Geltungsanspruch der Menschenrechte nicht komplett entziehen können. Wenn ihnen Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden, reden sie über bedauerliche Einzelfälle. Wir versuchen das Gegenteil, nämlich die systemischen Ursachen dieser Menschenrechtsverletzungen zu benennen. Die Folterfälle im Irak durch die US-Militärs und die Briten wurden von oben geleitet, geplant und dirigiert. Es ist ein Kontinuum unserer Arbeit, dass wir mit unseren juristischen Interventionen immer auf die Spitze zielen.

Auf welcher Rechtsgrundlage sind internationale Klagen wie die gegen Rumsfeld überhaupt möglich?
Früher war die Ahndung von Völkerstraftaten eine exklusive Veranstaltung der Staaten. Die alliierten Siegermächte haben die deutschen und die japanischen Kriegsverbrecher in Nürnberg oder Tokio vor Gericht gestellt. Der Staat Israel wiederum machte den Eichmann-Prozess zur staatlichen Inszenierung, wie schon Hannah Arendt kritisierte. Die Betroffenen und Überlebenden waren dabei nur Figuren in diesem Spiel, die Zeugen kamen als Subjekte gar nicht richtig vor. In den achtziger und neunziger Jahren wurde die Menschenrechtsbewegung einflussreicher – wohl auch deshalb, weil andere grosse Utopien gescheitert waren, erschienen die Menschenrechte als letzte Alternative. Die Betroffenen, ihre Familien, die Communitys wurden zu eigenständigen Akteuren. Beispielhaft dafür war die Verhaftung des chilenischen Diktators Augusto Pinochet vor zwanzig Jahren auf Initiative der Familienangehörigen und ihrer Anwälte. Seither hat sich das Weltrechtsprinzip immer stärker durchgesetzt.

Was bedeutet dieses Prinzip?
Dass ein Staat auch für die Verfolgung von Völkerstraftaten zuständig ist, wenn eine Tat nicht auf seinem Hoheitsgebiet oder durch einen seiner Staatsbürger begangen wurde. In Zeiten der Globalisierung gibt es aber auch häufig personelle Anknüpfungspunkte für Klagen. Die Opfer des «Extraordinary Rendition»-Programms der CIA, also der Entführungs- und Folterflüge, waren zum Teil Doppelstaatsbürger. Khaled al-Masri, einer der Entführten, hat beispielsweise einen deutschen Pass, weswegen die hiesige Staatsanwaltschaft aktiv werden müsste. Auch territoriale Bezüge bieten die Möglichkeit zur Anzeige: Transnationale Unternehmen wie Nestlé oder Mercedes haben ihre Hauptsitze häufig in der Schweiz oder in Deutschland. Das Staunen der Chefs, die sich hier gerne als rechtschaffene Bürger präsentieren, ist oft gross, wenn sie sich mit einer Klage konfrontiert sehen. Unsere Aufgabe ist es, sie hier in Europa zur Verantwortung zu ziehen.

Mit Ihrer Organisation klagen Sie zunehmend auch soziale und wirtschaftliche Rechte ein, die von den Grosskonzernen verletzt werden. Warum haben Sie Ihre Tätigkeit ausgeweitet?
Wir fanden es rasch zu billig, nur auf die angeblichen Barbaren im Süden zu zeigen. Es ist richtig, den argentinischen Exdiktator Jorge Rafael Videla oder den sudanesischen Machthaber Omar al-Baschir vor ein internationales Gericht zu stellen, wenn die Justiz vor Ort das nicht leistet. Aber sich darauf zu beschränken, ist falsch. Menschenrechtsverletzungen haben ganz oft politökonomische Ursachen, und dabei spielen transnationale Konzerne eine massgebliche Rolle, sei es bei der Ausbeutung von Rohstoffen oder der Ausbeutung der Arbeitskraft.

Solche Fälle sind wohl schwieriger einzuklagen.
Man hat rechtlich oft nur die Möglichkeit zu intervenieren, wenn Menschen sterben oder massiv zu Schaden kommen. Das war etwa beim Brand einer Textilfabrik in Karachi, Pakistan, der Fall, bei dem 2012 mehr als 250 Menschen starben. Bei Völkerstraftaten gibt es solide Rechtsgrundlagen, auf die man sich beziehen kann: Foltern ist verboten, Massakrieren ist verboten. Bei der Ausbeutung wird es juristisch schon schwieriger, denn die Ausbeutung von Menschen ist nur verboten, wenn die Grenze zur Sklaverei erreicht wird. Das ist ein typisches Beispiel, wie schwach das heutige Recht ist, warum ein gerechteres Recht hermuss.

In der Fabrik in Karachi produzierte hauptsächlich das deutsche Textilunternehmen Kik, das Sie später verklagt haben. Wie kam es zum Kontakt mit den Angehörigen? Sie können ja nicht einfach als weisser Ritter in Karachi auftauchen und sagen: So, jetzt wollen wir in Deutschland klagen.
Das ist eben das Interessante an diesen Fällen, die Globalisierung von unten: Bereits kurz nach dem Feuer hat sich ein transnationales Netzwerk gebildet aus einer Gewerkschaft, einer Betroffenengruppe, mittelständischen pakistanischen Anwälten, der NGO Medico International und unserer Organisation. Schnell war klar: Erst einmal müssen wir die Leute in ihren juristischen Kämpfen vor Ort unterstützen, es geht schliesslich um globale Solidarität. In ihrem Paternalismus begreifen die meisten europäischen Juristen nicht, dass in Karachi, Kapstadt oder Bogotá auch Recht gesprochen wird – und zum Teil auf eine fortschrittlichere Weise als in unseren verknöcherten, konservativen Justizwesen in Europa.

Wie kann eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe überhaupt funktionieren?
Klar, eine ungleiche Beziehung wird es immer geben, allein aufgrund der Bewegungsfreiheit: Wir können in der ganzen Welt herumreisen, während unsere Partner oft kein Visum bekommen. Darum ist es so wichtig, gemeinsam eine strategische Zusammenarbeit festzulegen. Das funktioniert am besten, wenn es vor Ort Zusammenschlüsse gibt wie die Gewerkschaft und die Betroffenenorganisationen in Karachi. Dann kann die rechtliche Auseinandersetzung mit einer gesellschaftlichen Mobilisierung verbunden werden. Wir wollen ja nicht die Illusion verbreiten, dass wir die Ausbeutung in der Textilindustrie in Südasien abschaffen, wenn wir mit einer Handvoll Betroffener Kik auf Schmerzensgeld verklagen. Aber man kann mit einer solchen Klage die Öffentlichkeit mobilisieren, in Pakistan wie in Deutschland.

Sie kämpfen für eine Ausweitung des Rechts, weisen aber auch auf seine Begrenztheit hin. Sind deshalb nicht politische Bewegungen genauso wichtig wie juristische Auseinandersetzungen?
Bei kollektiven Rechten ist das auf jeden Fall so. Der Kampf für eine gerechtere Welt ist nicht nur ein juristischer. Ich würde die Menschenrechte nicht ins Zentrum aller politischen Überlegungen stellen, als konkrete Utopie bieten sie aber Anknüpfungspunkte im Hier und Jetzt. Man kann sie einklagen, sich in Auseinandersetzungen mit der Macht werfen. Gleichzeitig scheint darin immer die Vision von sozialer Gerechtigkeit auf. Dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Chancen haben müssen, sich zu verwirklichen: das Recht auf Nahrung, auf eine Wohnung und eine gesundheitliche Behandlung.

Es gibt auch eine dezidierte marxistische, feministische oder postkoloniale Kritik an den Menschenrechten: Sie würden die Verbrechen des Westens ausblenden oder die Eigentumsverhältnisse ignorieren.
Wenn man den Anspruch erhebt, globale Menschenrechte durchsetzen zu wollen, dann muss man sich auf jeden Fall auch mit der Kritik am Recht auseinandersetzen. Postkoloniale Rechtskritiker wie der aus Kenia stammende Jurist Makau Mutua haben völlig recht, dass die Anwendung der Menschenrechte häufig vom Westen bestimmt wird: Der Westen definiere, wer die Täter und wer die Opfer sind, und behalte sich selbst die Rolle des Rettenden vor. Diese fatale Konstellation müssen wir gemeinsam überwinden.

Wie denn?
Letztlich gibt es keine Alternative dazu, in einer unperfekten Welt immer wieder unperfekte Dinge zu tun. Sicher mutet es bisweilen schizophren an, dass wir uns eines Rechts bedienen, dessen Grundprämisse das Recht auf Eigentum ist, das wiederum die Ursache vieler Dilemmata ist. Dennoch bieten die Menschenrechte ein grosses Potenzial, vielen Menschen zu Schutz zu verhelfen. Wir müssen ein unkomplettes und unperfektes Recht benutzen – aber immer auch dessen Veränderung fordern, in Richtung einer Vision von sozialer Gerechtigkeit.

Global geht der Trend in eine andere Richtung. Die Menschenrechte sind stark unter Druck, beispielsweise in Russland, der Türkei oder Ungarn.
In Russland und China wurden die rechtsstaatlichen Standards schon vor zwanzig oder dreissig Jahren nicht eingehalten. Da ist es nicht neu, dass Menschen wegen einer anderen Meinung oder wegen ihrer politischen Aktivitäten in den Knast kommen. Traurig ist aber, dass in Staaten wie Südafrika, Indien oder Brasilien, wo es interessante Entwicklungen mit starken sozialen Bewegungen gab, autoritäre nationalistische Eliten erneut an die Macht gekommen sind.

Wie steht es um Europa?
Auch in Kerneuropa, das sich gerne als Gipfel der Zivilisation sieht, drohen die Menschenrechte zu erodieren. Das menschenverachtende Migrationsregime haben ja die Regierungen in Deutschland, Grossbritannien und Frankreich bereits vor zwanzig Jahren ausgearbeitet. Sie haben es geschafft, die Aufnahme von Geflüchteten an die Grenzstaaten auszulagern, wo es immer wieder zu massiven Menschenrechtsverletzungen kommt. Die Salvinis, Orbans und Seehofers greifen mit ihren Abschottungsmassnahmen den harten Kern der Menschenrechte an: die Frage, ob die Marginalisierten überhaupt Zugang zum Justizsystem haben. Letztlich geht es um das Recht, Rechte zu haben, wie Hannah Arendt es einst formulierte. Ansonsten bricht alles zusammen. Denn wenn ich heute Geflüchtete und Sinti und Roma davon ausschliesse, sind es morgen andere unliebsame Individuen und Gruppen.

Wo sehen Sie die Gründe für die Erosion der Menschenrechte?
Sicher in der dramatischen wirtschaftlichen Entwicklung, vor allem seit der grossen Krise ab 2008. Arbeitsplätze gehen verloren oder werden entwertet, dadurch kommen gesellschaftliche Erosionsprozesse in Gang, die von aggressiven rechten Kräften instrumentalisiert werden. Ich finde es aber wichtig zu betonen, dass es auch überall auf der Welt Gegenkräfte gibt, die Widerstand leisten. Freiheit und Demokratie und erst recht globale Gerechtigkeit sind Prozesse, die immer wieder neu ausgefochten werden müssen. Daran müssen wir uns nach Jahrzehnten in der europäischen Mittelstandsblase erst wieder gewöhnen.

In der Schweiz wird am 25. November über eine Initiative der rechtspopulistischen SVP abgestimmt, die auf die Aufkündigung der Europäischen Menschenrechtskonvention zielt.
Ich kann der SVP nur gratulieren, sie hat gut abgeschrieben bei Erdogan oder Putin, wo die gleichen Forderungen als Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität bezeichnet wurden. Im Grunde geht es immer um dasselbe: Man will nicht an internationalen Standards gemessen werden. In der Türkei und in Russland versuchen die Regierungen, die nationalen Gerichte unter Kontrolle zu bringen. Eine Annahme der SVP-Initiative könnte eine Kettenreaktion auslösen: Warum sollen sich ein Putin oder die Ungarn oder die Polen an der EMRK messen lassen, wenn es die Schweizer nicht tun? Wenn das alle machen, dann droht die Barbarei.

Was ist für Sie das stärkste Argument gegen die Initiative?
Die Schweiz ist ja nicht darum so reich geworden, weil dort so viele fleissige Menschen leben. Sondern sie profitiert davon, ein wichtiger Banken- und Handelsplatz zu sein, was Regeln im Wirtschaftssystem und Verabredungen zwischen den Staaten voraussetzt. Wenn man dieses System aus kurzfristigen politischen Gründen infrage stellt, wird nicht nur die Schweiz ihren Preis dafür bezahlen müssen. Das war jetzt ein pragmatisches Argument.

In der Schweiz kommt Pragmatismus immer gut an.
Im Grunde ist es erbärmlich, auf die Schwächsten und Verletzlichsten einzuprügeln, um daraus politisches Kapital zu schlagen. Die Initiative wird auf dem Rücken von Minderheiten ausgetragen. Denn wir reden hier vor allem von Minderheitenrechten und Minimalschutzstandards.

Zahlreiche Fälle Ihrer Organisation betreffen Konzerne mit Sitz in der Schweiz: Nestlé, Syngenta oder Glencore. Welche Erfahrungen haben Sie mit der Schweizer Justiz gemacht?
Am Anfang war die Schweiz schon ein schwieriges Terrain für uns. Ähnlich wie in Deutschland ist für die Klagenden der Zugang zu Beweismitteln eingeschränkt, auch die Sorgfaltspflichten sind nicht klar definiert. Dazu ist das finanzielle Prozessrisiko für die Kläger sehr hoch. Aber es ist in letzter Zeit dank der Konzernverantwortungsinitiative einiges in Gang gekommen. Sie will neue rechtliche Möglichkeiten schaffen, die Konzerne zur Verantwortung zu ziehen. Und hoffentlich bringt sie einen Prozess des Nachdenkens in Gang: dass der Reichtum auf den Schweizer Bankkonten sehr eng verbunden ist mit dem Unrecht, das Menschen in anderen Teilen der Welt zugefügt wird.

Wir sind in diesem Gespräch einmal um die halbe Welt gerast, von Argentinien in die USA, nach Pakistan und bis in die Schweiz: Wie schaffen Sie das alles?
Weil die Tätigkeit ungemein spannend ist. Ich hätte mir das als junger Rechtsstudent nie erträumt. Im ECCHR arbeiten Juristen aus zahlreichen Ländern, aus Saudi-Arabien, Libyen oder Syrien. Wir kooperieren mit Kollegen in Israel, Palästina, Spanien oder den Niederlanden. Es ist toll, die Welt so zu erleben: als Teil eines Netzwerks, das für globale soziale Gerechtigkeit steht. Aber natürlich bezahle ich einen sehr hohen persönlichen Preis, erlebe auch Tiefpunkte: wenn wir mit Überlebenden der Folter in Syrien zusammenarbeiten etwa. Das trägt man dann Tage mit sich herum. Natürlich stellt sich dann oft auch ein Gefühl von Machtlosigkeit ein. Man muss schon eine gewisse Robustheit mitbringen für diese Arbeit.

Wie gehen Sie mit Niederlagen um?
Politisch – oder um es mit Samuel Beckett zu sagen: «Ever tried, ever failed. No matter. Try again, fail again, fail better.» Was ein juristischer Sieg und was eine Niederlage ist, zeigt sich sowieso oft erst viel später. Jules Lobel, der ehemalige Präsident des New Yorker Center for Constitutional Rights, hat ein Buch verfasst mit dem treffenden Titel «Success without Victory», Erfolg ohne Sieg. Er beschreibt darin, wie ein gewonnener Rechtsfall sozialen Bewegungen zum Nachteil gereichen kann und wie andersrum verlorene Rechtsfälle auf lange Sicht politischen Bewegungen durchaus nützen können. Natürlich gibt es auch Fälle, die wir keinesfalls verlieren wollen, weil es um den Kern der Menschenrechte geht, wie beispielsweise die aktuellen Migrationsfälle des ECCHR.

Gab es für Sie ein biografisches Schlüsselerlebnis, das Sie zu Ihrer heutigen Arbeit geführt hat?
Ich hatte eine behütete westdeutsche Jugend. Wie viele wurde ich durch die Generation vor mir, die Achtundsechziger, politisiert. Als ich mich für mein Buch mit meiner Biografie beschäftigt habe, ist mir allerdings aufgegangen, dass es für meine heutige Tätigkeit eine gewisse Rolle gespielt hat, dass meine Eltern Flüchtlinge waren. Mein Vater kam aus Ostpreussen, meine Mutter aus Siebenbürgen. In ihrem Leben haben Armut, Ausgrenzung und Verfolgung eine grosse Rolle gespielt.

Eine letzte Frage: Donald Rumsfeld ist noch immer frei. Wie steht es um sein Verfahren?
Ja, er ist noch frei, aber als Folterer gebrandmarkt. Das können wir uns auf die Fahnen schreiben. Und Donald Rumsfeld kann nicht mehr reisen, nicht nach Lateinamerika oder Europa, ohne zu befürchten, dass er irgendwann zum Gegenstand eines Strafverfahrens wird. Deswegen ist er nicht mehr nach Europa gereist, ebenso George W. Bush nicht. 2011 wollte er für ein Charity-Event nach Genf kommen. Als wir das gehört haben, bereiteten wir eine Strafanzeige vor. Unter anderem deswegen hat er die Reise abgesagt. Seitdem sind sie alle nicht mehr hergekommen. Reicht uns das? Nein. Ist das mehr, als es vorher gab? Ja.