Bauarbeiterstreik: «On ne demande pas la lune»

Nr. 43 –

«Wir verlangen ja nichts Unmögliches», sagt Manuel Nogueira. Zusammen mit mehr als 5500 Bauarbeitern hat er in den letzten Wochen gestreikt. Auf dem Spiel steht die frühzeitige Pensionierung.

Manuel Nogueira ist 57 und sagt: «Arbeiter ab fünfzig will niemand mehr, sie sind nicht mehr rentabel genug.»

Normalerweise kümmert er sich um den «gros œuvre», den Rohbau von Mauern, neun Stunden am Tag, bei Wind und Wetter. Am Mittwoch vor einer Woche stand Manuel Nogueira den Wasserwerfern der Genfer Polizei gegenüber. «Sie wollten verhindern, dass wir wie am Vortag die Mont-Blanc-Brücke besetzen. Diese Brücke wurde von Maurern, wie wir es sind, gebaut. Wieso sollen die uns verbieten können, an diesem Ort zu demonstrieren?»

Mit dieser Haltung steht Nogueira für mehrere Tausend Bauarbeiter, die in diesen Tagen mit Streiks und Protestaktionen den Patrons und dem Baumeisterverband (SBV) selbstbewusst den Kampf angesagt haben. In Bellinzona und Genf gingen in den vergangenen Wochen mehr als 5500 Bauarbeiter auf die Strasse. In den nächsten Wochen sollen Aktionen im Kanton Waadt und in der Deutschschweiz folgen.

Im Zentrum stehen dabei die aktuellen Verhandlungen der Gewerkschaften Unia und Syna mit dem SBV zur Sanierung der Stiftung FAR, die Bauarbeitern eine frühzeitige Pensionierung ermöglicht. Damit zusammen hängt auch der Tarifvertrag des Baugewerbes, der bald ausläuft: der sogenannte Landesmantelvertrag (LMV). Sollte bis Ende 2018 bei beiden Vertragswerken keine Einigung erzielt werden, steht mit der Frühpension mit sechzig Jahren eine der grössten sozialen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte auf dem Spiel.

Kein Bauboom mehr

Auch Manuel Nogueira ist von den Verhandlungen direkt betroffen. Vier Tage nach dem Streik sitzt er in einer kleinen Wohnung in Genf, nur einen Steinwurf von der Mont-Blanc-Brücke entfernt. Er ist 57, noch fehlen ihm drei Jahre bis zur frühzeitigen Pensionierung, sofern das Rentenalter nicht erhöht wird, wie der SBV noch im Mai dieses Jahres gefordert hat. «Das kommt nicht infrage», sagt Nogueira. «Wir haben die Schweiz aufgebaut, c’étaient nous, wir haben es verdient, mit sechzig in Rente zu gehen.» Vor über dreissig Jahren kam er aus Portugal in die Schweiz, «in der Hoffnung auf ein besseres Leben». Viele Portugiesen taten es ihm gleich. Es war die Zeit des Baubooms, überall entstanden Wohnungen.

Das Baugewerbe habe sich mittlerweile enorm verändert, sagt er: «Der Druck und der Stress auf den Baustellen haben zugenommen.» Das bekämen gerade ältere Bauarbeiter zu spüren. «Arbeiter ab fünfzig will niemand mehr, sie sind nicht mehr rentabel genug.» Mit dieser Begründung wurde ihm vor einem Jahr gekündigt, nachdem er zwölf Jahre lang für das gleiche Unternehmen gearbeitet hatte.

Weil Arbeiter über fünfzig kaum mehr eine Festanstellung finden, muss er seit der Entlassung temporär arbeiten. Im letzten Jahr hat er für drei verschiedene Firmen gearbeitet. Er tut das vor allem, um seinen Rentenanspruch nicht zu verlieren. Denn gemäss FAR-Richtlinien kann sich ein Bauarbeiter nur frühzeitig pensionieren lassen, wenn er in den letzten sieben Jahren vor der Pension nicht länger als zwei Jahre arbeitslos war.

So wie Nogueira geht es vielen Bauarbeitern, wie eine Studie der FAR zeigt: Zwischen 2015 und 2016 stieg die Zahl der Temporärbeschäftigten im Baugewerbe um sechzehn Prozent. Besonders betroffen sind Arbeiter über fünfzig. Dort wuchs die Zahl sogar um zwanzig Prozent. Tendenz steigend.

Sofa und Salbe

Nach mehreren zähen Verhandlungsrunden zwischen den Gewerkschaften und dem SBV hatte sich im September kurzzeitig ein Kompromiss abgezeichnet: Die frühzeitige Pensionierung mit sechzig sollte durch höhere Lohnbeiträge der Arbeitnehmer an die FAR und eine generelle Lohnerhöhung gesichert werden. Damit wäre die Stiftung mittelfristig saniert. Der SBV knüpft seine Zustimmung jedoch an eine Flexibilisierung der Arbeitszeiten im LMV. Konkret sollen Bauarbeiter in den warmen Jahreszeiten bis zu 300 Überstunden leisten können, um diese dann im Winter zu kompensieren. Die Gewerkschaften rechnen mit täglich bis zu zwölf Stunden Arbeit.

«Die Arbeit auf dem Bau ist bereits heute beschwerlich genug», sagt Nogueira, der beim Gehen leicht hinkt. «Wenn ich am Abend nach Hause komme, muss ich mich gleich hinlegen, manchmal meinen Rücken mit Salbe pflegen. Und das geht vielen meiner Kollegen so.» Die Wut sei deshalb gross. «Es war nicht schwierig, für den Streik zu mobilisieren. Natürlich, den Chefs gefällt es nicht, dass wir streiken.» Nogueira erzählt von Firmen, die Listen mit Personen führten, die an den Streiks teilnahmen. «Ich habe nichts zu verstecken, ich habe niemanden ausgeraubt. Ich bin Arbeiter.» Es gehe nur darum, den Status quo zu erhalten, sagt Nogueira. «On ne demande pas la lune.»

Der Baumeisterverband will hingegen noch einen Schritt weiter gehen: Neben der Flexibilisierung der Arbeitszeiten will er in gewissen Fällen den Mindestlohn aufheben und bei Stellenwechseln den Lohn von Bauarbeitern senken können. Wenn bis zur nächsten Verhandlungsrunde am 9. November keine gute Lösung auf dem Tisch liege, werde man weiterstreiken, sagt Nogueira und lächelt. «Dann aber eine ganze Woche lang.»