Saudische Repression: Königlicher Zugriff in der Schweiz

Nr. 43 –

Ein saudischer Prinz wird im Jahr 2003 aus Genf nach Saudi-Arabien entführt – obwohl er die Schweizer Behörden informiert hat, dass er in Gefahr sei. Dreizehn Jahre später verschwindet der Prinz erneut. Die Schweiz interessiert sich immer noch nicht dafür. Im Gegenteil.

Warum Sultan bin Turki bin Abdulasis eigentlich zum Dissidenten wurde, ist nicht bekannt. Klar ist, dass den saudischen Prinzen irgendwann im Jahr 2002 der Hafer sticht. Ab Januar 2003 wettert er öffentlich gegen die Korruption in Saudi-Arabien, gegen Zahlungen an ausländische Minister, fordert Transparenz, Rechenschaft, Reformen. Er gibt dem saudikritischen arabischen Satellitensender al-Dschasira Interviews, plant die Gründung einer politischen Organisation.

Bald wird für den Enkel des ersten saudischen Königs die Luft im Land zu dünn. Er verlässt Saudi-Arabien und lebt von nun an in Genf, standesgemäss, im Hotel Intercontinental. Er mässigt sich nicht – zum zunehmenden Ärger des saudischen Königshauses. Man versucht, ihn zu überzeugen, nach Saudi-Arabien zurückzukehren. Seine Büros in der Hauptstadt Riad werden durchsucht, seine Gelder eingefroren. Er kann seine Rechnungen nicht mehr bezahlen, reduziert deswegen auch sein Sicherheitsteam. Sultan macht sich Sorgen. Er informiert die Schweizer Behörden, dass er in Gefahr sei.

Am 12. Juni 2003 geht er zu einem Treffen in einem Anwesen in Collonge-Bellerive bei Genf, das dem saudischen Königshaus gehört. Zwei hochrangige saudische Minister, darunter ein Cousin Sultans, haben ihn dazu eingeladen. Denn man stimme ihm grundsätzlich zu und wolle über seine Vorwürfe diskutieren.

Was dann geschieht, schilderte Prinz Sultan später so: Während des Gesprächs verlassen die beiden Minister unter Vorwänden den Raum. Fünf vermummte Männer stürzen herein, überwältigen ihn und stellen ihn mit einer Spritze ruhig. In einer Ambulanz wird er an den Genfer Flughafen gebracht und von dort in einem saudischen Flugzeug, getarnt als ärztlicher Transport, nach Saudi-Arabien geflogen. In der Schweiz passiert nach dieser Entführung: nichts.

Anruf aus dem Hausarrest

2004 meldet sich Sultan telefonisch beim Sender al-Dschasira und dem libanesischen New TV. Er berichtet von der Entführung, beschuldigt die Verantwortlichen namentlich, erzählt, dass er nach zwei Monaten im Spital nun unter Hausarrest stehe. Seine Gesundheit sei durch die Folgen der Entführung und der nicht fachgerechten Anästhesie schwer beeinträchtigt. Er macht die Schweiz mitverantwortlich und fordert, dass sie die Schuldigen bestraft. Auch der britische «Guardian» berichtet über die mutmassliche Entführung. Die Schweizer Botschaft in Riad informiert nun auch Bern. Ansonsten passiert: nichts.

Sechs Jahre später kann der gesundheitlich immer noch angeschlagene Sultan zur medizinischen Behandlung in die USA reisen. Er geht erneut an die Öffentlichkeit. Die in den USA erscheinende «Arab Times» veröffentlicht ein Communiqué des Prinzen, in dem er die Entführung detailliert beschreibt und die Schweiz wiederum auffordert, die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Niemand reagiert.

Sultan bleibt in den USA und reicht schliesslich 2015 in Genf Klage gegen die beiden Minister als Hauptverantwortliche und gegen allfällige weitere Täter ein. Der zuständige Genfer Staatsanwalt zeigt sich engagiert. Und das Bundesamt für Justiz signalisiert, dass man sich um saudische Amtshilfe bemühen werde, falls diese aus Genf angefordert würde. Sultan wird befragt, auch zwei aus seinem damaligen Team werden einvernommen. Obwohl allen klar ist, dass die Zeit wegen möglicher Verjährung drängt, geschieht danach nichts mehr. Keine Untersuchung am Genfer Flughafen, kein Gesuch um Amtshilfe.

Im Januar 2016 besteigt Sultan bin Turki bin Abdulasis – trotz mehrfacher Warnungen seines Umfelds – in Frankreich ein vom saudischen Konsulat zur Verfügung gestelltes Flugzeug, das ihn zu seinem kranken Vater in Kairo bringen soll. Stattdessen geht der Flug nach Saudi-Arabien. Seine Sicherheitsleute und das medizinische Personal können das Land bald wieder verlassen. Sultan selbst ist seither verschwunden. In Genf wird derweil das Verfahren sistiert, unter anderem, so ist zu erfahren, weil Sultan nicht mehr befragt werden könne.

2017 sendet die britische BBC unter dem Titel «Saudi Arabia’s Missing Princes» eine grosse Dokumentation über die Geschichte von Sultan und zwei weitere verschwundene saudische Prinzen. Der Bericht erregt international Aufsehen, auch Schweizer Medien berichten darüber. In Genf wird das Verfahren wegen Verjährung definitiv geschlossen.

Politisch unbedarft

Wie kann es passieren, dass ein Verfahren wegen Entführung sistiert wird – ausgerechnet zu einer Zeit, da der Entführte erneut verschwindet? Gab es politischen Druck aus Saudi-Arabien auf die Schweiz? Vielleicht. Das scheint jedoch nicht der ausschlaggebende Grund zu sein. Eher, so vermutet man im Umfeld von Sultan bin Turki bin Abdulasis, kam der Genfer Staatsanwalt mit der forschen und fordernden Art des Prinzen nicht zurecht. Er habe möglicherweise befürchtet, vor Gericht mit einem solchen Kläger nicht durchzukommen.

Doch warum konnte die Entführung im Jahr 2003 überhaupt gelingen, wo doch Sultan die Schweizer Behörden alarmiert hatte? Das Schweizer Aussendepartement (EDA) gibt auf Anfrage an, erst im Januar 2004 über die vom Prinzen behauptete Entführung informiert worden zu sein. Von einer Entführungsgefahr will man also nichts gewusst haben. Sultan hingegen schreibt in der «Arab Times», er habe den damaligen Schweizer Botschafter in Riad, Dominik Alder, auf die Gefahr hingewiesen.

Alder ist heute pensioniert. Am Telefon mag er sich an Details nicht mehr erinnern. Er bestreitet aber, von Sultan oder seinem Umfeld kontaktiert worden zu sein. Der damalige Chef von Sultans Sicherheitsteam in Genf hingegen sagt der WOZ: «Ich selber habe zweimal mit Botschafter Alder telefoniert; das zweite Mal wenige Tage vor der Entführung. Seine Königliche Hoheit hat sich extrem Sorgen gemacht um ihre Sicherheit, das habe ich in seinem Auftrag dem Botschafter mitgeteilt.»

Möglich ist, dass Alder die Warnungen nicht ernst genommen hat und sich deshalb heute nicht mehr daran erinnert. Möglich auch, dass sowohl beim Botschafter wie auch in Bern die politische Sensibilität gefehlt hat und man sich ganz generell von internen Querelen im saudischen Königshaus fernhalten wollte. Vielleicht war das sogar nach der Entführung auf Schweizer Boden immer noch die Grundhaltung. Denn auch 2004 unternahm das Aussenministerium nichts – weil, so argumentiert das EDA heute, keine weiteren Informationen vorgelegen hätten, die Sultans Behauptungen bestätigten.

Oktober 2018. Prinz Sultan bin Turki bin Abdulasis ist immer noch verschwunden. Von einer Person in seinem Umfeld in Saudi-Arabien ist zu vernehmen, es gebe zu seiner Situation «nichts Neues». Vermutlich heisse das immerhin, dass er am Leben sei und unter Hausarrest stehe.

Khashoggi und die anderen

Die Tötung des kritischen saudischen Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen Konsulat zeigt erneut: Wer als Saudi öffentlich Kritik übt, lebt gefährlich – egal wo.

Neben Prinz Sultan bin Turki bin Abdulasis sind noch weitere Prinzen verschwunden. Prinz Sultan selber sah sich dabei noch nicht einmal als Oppositionellen, sondern wies im Interview mit New TV lautstark darauf hin, zur herrschenden Familie zu gehören.

Am gefährlichsten sind für KritikerInnen Orte, an denen die saudischen Schergen nach ihren eigenen Regeln operieren können. Ein saudisches Konsulat zum Beispiel oder ein saudisches Flugzeug. Oder ein saudisches Anwesen in Genf.