Von oben herab: Traditionspflege

Nr. 43 –

Stefan Gärtner forciert die humanitäre Aufrüstung

Der Blick von aussen ist ja ein besonders genauer, wenigstens ganz anderer, und Selbst- und Fremdwahrnehmung fallen gern so auseinander wie Wunsch und Wirklichkeit. Der Chef des bundeseigenen Rüstungskonzerns Ruag, Urs Breitmeier, fordert eine Lockerung der Exportbestimmungen, um waffentechnisch nicht ins Hintertreffen zu geraten, verweist dabei auf europäische Nachbarn, und die NZZ hakt im Interview nach: «Folglich akzeptieren Sie das Argument nicht, dass die Schweiz aufgrund ihrer aussenpolitischen Grundsätze und ihrer humanitären Tradition andere Massstäbe anlegen sollte als etwa Deutschland oder Frankreich?»

Das liest man als Deutscher natürlich staunend, wähnte man sich doch in einem Land, das die Lehren von Auschwitz und Stalingrad mit äusserster Konsequenz gezogen hat und sich deswegen als Friedenssupermacht versteht, die sogar, man denke, einen Krieg geführt hat, um auf dem Balkan ein neues «Auschwitz» (Jockel Fischer) zu verhindern; und nun treffen sich eine Heidi Gmür und ein Urs Breitmeier in Bern zum Kaffee und sind sich einig, dass die Schweiz ganz andere, nämlich noch viel edlere Massstäbe hat! «Den Zielkonflikt bestreite ich nicht. Wir haben zum einen unsere humanitäre Tradition und die vielen guten Dienste, die die Schweiz international zur Konfliktlösung leistet.» Und was ist mit der deutschen humanitären Tradition, die es spätestens seit 1945 gibt und die etwa das Opfer gebracht hat, vierzig Jahre lang alte Nazis in Armee, Geheimdienst, Verwaltung und Justiz zu beschäftigen, damit «Soffjetrussland» (Adenauer) das Abendland und seine humanitäre Tradition nicht überrolle? Und hätte, während Deutschland ja mittlerweile der beste Freund Israels und alles Jüdischen ist, die Schweiz während des bedauerlichen «Freak-Unfalls der deutschen Geschichte» (M. Matussek) nicht alle Verfolgten aufnehmen können, statt den Verführern des deutschen Volks (gemeint: Nazis) mit «Krediten, Devisen und Rüstungsgütern» (Wikipedia) auszuhelfen? Da stünde Deutschland heute besser da und müsste sich nicht von Schweizer Rüstungsmanagern belehren lassen!

Und während die deutsche Bundeskanzlerin nicht hinnimmt, dass in saudi-arabischen Botschaften Leute ganz ohne die Mitwirkung deutscher Waffen ums Leben kommen, und eins ihrer unnachahmlichen Machtworte gesprochen hat: «Was Rüstungsexporte anbelangt, kann das nicht stattfinden, in dem Zustand, in dem wir im Augenblick sind», fragt sich der bundeseigene Schweizer Rüstungskonzern mit der humanitären Tradition, «warum die Schweiz zum Beispiel keine Fliegerabwehrsysteme nach Thailand exportieren» soll, nur «weil im Süden ein lokaler Konflikt herrscht? Ein Land, in dem zahlreiche Schweizer ihre Ferien verbringen?» Als könnte man der Guerilla mit Flugabwehrsystemen beikommen!

Nein, es ist zu ärgerlich, wie hier wer der Bundesrepublik Friedensdeutschland (Waffenausfuhren 2016: 6,9 Milliarden Euro, auch wegen der lt. Deutschlandfunk «Aufrüstung der arabischen Welt») mit vermeintlich höherwertiger Humanitas kommt. Frankreich, gut, da essen sie Frösche und wählen rechtsradikal, aber «das beste Deutschland, das wir je hatten» (Reichsbischof Gauck)? Hätte das, wie zuletzt die vorbildlich humanitäre Ruag, in Brasilien eine Munitionsfabrik errichten wollen und sich von der Regierung zurückpfeifen lassen müssen wegen, sehr schön, «Reputationsrisiken» (NZZ)? Vielleicht, schliesslich wissen Demonstranten und Dissidentinnen in aller Welt, wie Schützenpanzer aus deutscher Produktion aussehen. Aber nach Brasilien liefern «wir» («Tageszeitung», Berlin, Hauptstadt der BRD) ja allenfalls Maschinenpistolen, und da soll der Faschist Bolsonaro ruhig sehen, wie er an die Munition kommt.

Peace!

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.