Erinnerungskultur von rechts: Die Macht mit Mythen zementieren

Nr. 45 –

Neue Helden oder Faschisten? Seit ihrem Wahlsieg 2015 baut die rechtskonservative PiS-Regierung die polnische Republik in ihrem Sinn um. Dafür muss die Geschichte des Landes neu geschrieben werden.

Die Wand ist mit Bildern, Wimpeln und Orden übersät, aber ganz in der Mitte hängt der Adler. Seine weissen Flügel auf rotem Grund sind weit gespannt. Am Schreibtisch darunter sitzt Adam Siwek und faltet seine Hände. Wenn er sich vorbeugt, wirkt es fast so, als würde er sich unter dem polnischen Wappentier ducken wie ein Schulbub.

Das Institut für Nationales Gedenken (IPN) ist ein grauer, wuchtiger Plattenbau im Süden Warschaus. Draussen pumpt sich der Nachmittagsverkehr durch die Ausfahrtsstrassen, drinnen sitzt Siwek, ein untersetzter Mann mit hoher Stirn, und überlegt lange, bevor er antwortet. So ganz will seine Erscheinung nicht zum patriotischen Pathos des Arbeitsplatzes passen. Er spricht mit leiser Stimme, aber nur Polnisch, kein Englisch.

Das IPN wurde nach der Wende gegründet, um die Verbrechen von Nationalsozialisten und Kommunisten auf polnischem Boden aufzuklären. Zuletzt ist es wieder in die Schlagzeilen geraten. Seit ihrem Wahlsieg vor drei Jahren ist die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) daran, die Republik umzubauen – und das polnische Geschichtsbild gleich mit. Die Gelder des Instituts wurden aufgestockt, Adam Siwek wurde zum Direktor des neu geschaffenen Büros ernannt. «Büro für den Kampf und das Martyrium» steht an seiner Tür.

Kein Opfer mehr sein

Kaum ein anderes Land in Europa hat mehr unter den Katastrophen des 20.  Jahrhunderts gelitten als Polen, zwischen Hitler und Stalin aufgeteilt, umkämpft, zerrieben. In den «Bloodlands», wie sie der US-Historiker Timothy Snyder in seinem gleichnamigen Buch bezeichnet hat, ist während des Zweiten Weltkriegs jedeR fünfte BewohnerIn Polens eines gewaltsamen Todes gestorben. Warschau hat besonders unter dem Krieg gelitten: Die Stadt wurde nach dem Warschauer Aufstand von den Nazis dem Erdboden gleichgemacht.

Wenn Adam Siwek spricht, geht es oft um Stolz. «Jahrelang ist die polnische Gesellschaft im Geist erzogen worden, sich als Opfer zu sehen», sagt er. Das soll sich jetzt ändern. Er spricht davon, «Identität zu stiften» und «positive Werte in der Gesellschaft zu verankern». Die PolInnen hätten ein Recht darauf, auf ihre Geschichte stolz zu sein, wie andere Länder auch. Patriotischer und positiver sollte das Geschichtsbild werden und damit das internationale Bild des Landes korrigieren. Irgendwann lässt er diesen Satz fallen: «Wir schreiben die polnische Geschichte um.»

Was das bedeutet, zeigen die Initiativen, die das IPN angestossen hat: Die Entfernung kommunistischer Symbole aus dem öffentlichen Raum. Das «Holocaustgesetz», das die Bezeichnung «polnische Konzentrationslager» unter Strafe stellt, weil es eine polnische Mitschuld am Holocaust suggeriere. Oder der Vorstoss zum Kult um die sogenannten verstossenen Soldaten, eine Gruppe polnischer Widerstandskämpfer im Zweiten Weltkrieg, die sich nach dem Rückzug der Nazis aus Polen neu formierte, um fortan gegen die Kommunisten zu kämpfen. Nur einen Steinwurf von Siweks Büro entfernt soll ihnen im Gefängnis Mokotow ein Denkmal gesetzt werden. Positive Helden in einer dunklen Zeit.

Schöne neue Geschichte

Genau diese neuen Helden lassen andere erschaudern. Klementyna Suchanow sitzt in einem hippen Innenstadtcafé. Die schlanke, elegante Frau mit dem kurzen Pixiehaarschnitt sieht nicht aus wie eine Strassenkämpferin, doch zuletzt ist sie immer wieder auf die Barrikaden gestiegen. Gegen das rigide Gesetz, das Abtreibungen ganz verbieten soll. Gegen die Justizreform, die unliebsame RichterInnen zwangspensioniert. Gegen die Mediengesetze. Oder gerade kürzlich, als sie sich an einem kalten Märztag mit weiteren DemonstrantInnen vor das IPN stellte, um gegen den Kult um die «verstossenen Soldaten» zu protestieren.

Suchanow ist eine angesehene Intellektuelle, im Vorjahr hat die 44-Jährige einen der wichtigsten polnischen Literaturpreise gewonnen. Mit der schönen neuen Geschichtspolitik der PiS kann sie nichts anfangen, erst recht nicht mit dem Heldenkult um die «verstossenen Soldaten». «Einige von ihnen waren vielleicht positive Figuren, andere wiederum Kriminelle und sogar Faschisten», sagt sie. Die Regierung wolle einfach ihre Macht mit neu geschaffenen Geschichtsmythen zementieren. «Sie idealisieren einen Teil der Geschichte, um sie für sich zu nutzen», sagt sie.

Das «Polnischsein»

Zurück im Plattenbau. Faschisten? «Alles liberale Propaganda», wird Siwek zum ersten Mal etwas lauter. Hinter den Vorwürfen stehe doch nur die Bürgerplattform (PO), die politischen ErzfeindInnen der PiS, die sich in ihrer achtjährigen Regierungszeit nur für die Wirtschaftszahlen und die Zukunft, nicht aber für die Vergangenheit interessiert hätten, so Siwek. Deswegen werde die Suche nach dem «Wyszydzic», dem «Polnischsein», in liberalen Kreisen pauschal als «nationalistisch und faschistisch» abgetan, sagt er. Zu Unrecht. «Die Kommunisten wollten die Erinnerung an die ‹verstossenen Soldaten› aus dem kollektiven Gedächtnis löschen und sie in die Nähe der Nationalsozialisten rücken», sagt er. «Diese Soldaten waren damals die Letzten und Einzigen, die für die Unabhängigkeit Polens aufgestanden sind. Unser Institut versucht, sie zu rehabilitieren und das Andenken an sie wiederzubeleben.»

Mit ihrer Kritik ist Suchanow, die eher eine Linke als eine Liberale ist, aber nicht allein. Als «demagogische Märtyrergeschichte» bezeichnet der Historiker Krzysztof Ruchniewicz die PiS-Geschichtspolitik. Dass die nationalkonservative Regierung damit rechten Kräften den Rücken stärkt oder sie zumindest gewähren lässt, ist ein gängiger Vorwurf.

Vor einem Jahr marschierten zum polnischen Unabhängigkeitstag am 11  November rund 60 000 Menschen unter rechten Bannern und Parolen durch die Warschauer Innenstadt. Die PiS distanzierte sich nur halbherzig vom Aufmarsch und tat antisemitische und xenophobe Aussagen als eine Tat weniger Provokateure ab. Die internationale Empörung über den «Faschistenmarsch», wie ihn die britische Zeitung «The Independent» nannte, spielte ihr aber in die Hände. Die Wagenburgmentalität der PiS – PolInnen als vom Westen missverstandene PatriotInnen – wird dadurch teils noch untermauert.

Ein Gegenentwurf zur Tristesse

Im Zentrum von Warschau, wo früher das jüdische Leben pulsierte und später das Warschauer Ghetto errichtet wurde, öffnete 2013 das Museum der Geschichte der polnischen Juden seine Tore. Ein moderner, heller Glasbau, die hellen Sandsteinwände im Inneren lassen an eine Felshöhle denken, die das Gebäude teilt – symbolisch für die Teilung des Roten Meeres und die Brüche in der jüdischen Geschichte. Nicht nur architektonisch wirkt das Museum wie ein Gegenentwurf zur grauen Tristesse des IPN. Museumsdirektor Dariusz Stola gehört auch zu den grössten KritikerInnen der Erinnerungspolitik der PiS.

Besonders kritisch hat sich Stola zum «Holocaustgesetz» geäussert. «Der Gesetzesentwurf hat erst recht dazu geführt, dass der Ausdruck ‹polnische Konzentrationslager› tausendmal im Internet verwendet wurde», sagt er. Nach einem internationalen Aufschrei wurde das Gesetz zwar wieder abgeschwächt. Dass sich auch Israel kritisch zum Gesetz äusserte, habe in Polen im Internet wiederum eine regelrechte antisemitische Hasswelle ausgelöst. «Ich bin sehr besorgt über die sekundären Effekte dieses Gesetzes», sagt er. «Eine Spirale aus Beleidigungen, Fake News und Hass.»

Die PolInnen seien vor allem an der Geschichte des 20. Jahrhunderts interessiert, erklärt Stola. Was auch gut sei, denn die Museen in Polen seien voll, fast an jeder Strassenecke in Warschau werde mit Denkmälern, Blumen und Kränzen wichtiger Ereignisse der jüngeren Geschichte gedacht. «Zugleich lässt sich alter Hass besonders leicht aufheizen», sagt er.

Längst gehe es der PiS nicht nur um die Deutungshoheit über den Zweiten Weltkrieg, sondern auch um die jüngste Vergangenheit: So werde der runde Tisch, an dem sich 1989 KommunistInnen mit Solidarnosc-AnhängerInnen einigten, als fauler Kompromiss geschmäht. Die wahre Wende, der «gute Wandel» («dobra zmiana»), sei erst unter Jaroslaw Kaczynski eingeleitet worden. Stola sagt: «Es geht um nichts weniger als eine generelle Revision der polnischen Geschichte.»