Konflikt in Kamerun: Wie die Macht des Kolonialismus bis heute nachwirkt

Nr. 45 –

Der Machtapparat in Yaoundé sorgt seit Jahrzehnten für Stabilität, die von den Regierungen in den Nachbarstaaten wie auch im Westen geschätzt wird. Kameruns anglophone Minderheit sieht das anders.

Im Westen Kameruns wächst die Verzweiflung, aber auch der Widerstand, nachdem der seit 36 Jahren regierende Paul Biya auch die jüngste Wahl für sich entschieden hat. In den beiden westlichen «régions» lebt der Grossteil der anglophonen Minderheit, die vom französisch geprägten Machtapparat in Yaoundé seit Jahrzehnten diskriminiert wird. Hier gingen gemäss unabhängigen BeobachterInnen nur fünf Prozent der Wahlberechtigten zur Urne – weil eh allen bewusst war, dass die acht KandidatInnen der zersplitterten Opposition keine Chance haben würden, und weil viele Wahllokale wegen der Kämpfe geschlossen blieben.

Nun steht Kamerun vor einer Zerreissprobe. Der seit über einem Jahr schwelende Konflikt könnte sich jederzeit zu einem internen Krieg ausweiten – was nicht nur die Republik mit rund 25 Millionen EinwohnerInnen, sondern auch mehrere Nachbarländer zu destabilisieren droht.

Denn Kamerun ist die dominante Volkswirtschaft Zentralafrikas, und die Wirtschaftsmetropole Duala dient benachbarten Binnenländern als fast schon lebenswichtiger Meereszugang. Kamerun übernimmt auch eine Scharnierfunktion zu Westafrika, insbesondere zum westlichen Nachbarstaat Nigeria, dem bevölkerungsmässig und wirtschaftlich grössten Land des Kontinents. Im internationalen Kampf gegen die Terrororganisation Boko Haram – die von Nigeria aus auch in Randregionen Kameruns vorgedrungen ist – übernimmt die hoch dotierte Armee der Republik eine zentrale Rolle. Sehr zur Zufriedenheit der USA und Frankreichs, die die kamerunischen Sicherheitskräfte seit Jahren unterstützen und selbst Truppen vor Ort haben.

Die kamerunischen Sicherheitskräfte untergraben im schwelenden internen Konflikt mit den rund fünf Millionen Englischsprachigen nun genau die Stabilität, von der der Machtapparat in Yaoundé, die Nachbarländer und die westlichen Alliierten bisher profitiert haben. Doch der eigentliche Grund für den jetzigen Konflikt liegt in politischen Entwicklungen, die lange vor der Regentschaft Biyas eingesetzt haben.

Koloniale Schatten

Der Fall Kamerun zeigt modellhaft auf, wie wirkungsmächtig der Kolonialismus weiterhin ist. Dass Biya wohl im Regierungspalast wird sterben dürfen, hat genau so institutionelle Gründe wie die Tatsache, dass ausgerechnet die von zwei europäischen Kolonisatoren verbreiteten Sprachen und Kulturen den heutigen Konflikt definieren.

Hätte Deutschland den Ersten Weltkrieg nicht verloren, würden wohl alle KamerunerInnen heute Deutsch sprechen. Doch der deutsche Kaiser verlor, und die Kriegsgewinner Frankreich und Grossbritannien, die bereits die umliegenden Gebiete beherrschten, teilten sich die deutschen Kolonien Kamerun und Neukamerun 1919 unter sich auf. Die Vorgängerorganisation der Uno, der Völkerbund, teilte Grossbritannien einen Streifen am Rand Nigerias zu, Frankreich hingegen den ganzen grossen Rest. Die britischen und französischen Teile des heutigen Staates entwickelten sich total unterschiedlich: Sprache, Bildungs- und Justizsystem wurden fast vollständig von der jeweiligen Kolonialmacht geprägt.

Ende der fünfziger Jahre machte sich eine verbotene kommunistische Organisation daran, die Unabhängigkeit von Frankreich zu erkämpfen. Am 1. Januar 1960 wurde diese offiziell verkündet, weniger als zwei Jahre später erfolgte dann auch der Rückzug Grossbritanniens aus der Region. In einem Referendum entschied sich die (mehrheitlich christliche) Bevölkerung im Süden des vormaligen «British Cameroon» dazu, sich mit dem französisch (und ebenfalls christlich) geprägten «Cameroun» zusammenzuschliessen. Das Versprechen lautete, dass das neue Staatsgebilde eine Föderation sei, in der der anglophone Teil seine Eigenheiten bewahren könne. Die zwei goldenen Sterne in der Flagge der Föderalistischen Republik Kamerun waren das Symbol der Gleichberechtigung beider Teile.

Eine echte Föderation blieb nie mehr als ein Versprechen. Ahmadou Ahidjo, der Gründungspräsident des unabhängigen Kamerun (und Biyas direkter Vorgänger), rief bereits 1972 die Vereinte Republik Kamerun aus und liess etwas später den zweiten Stern in der Flagge entfernen.

Theoretisch gibt es zwar bis heute ein paar Elemente der Machtteilung. In der Zentralregierung wird sogar der Posten des Ministerpräsidenten von einem Anglophonen besetzt. Und dieser übernimmt unter Präsident Biya tatsächlich das Tagesgeschäft, weil der fast mehr Zeit in einem Genfer Hotel verbringt als in der kamerunischen Hauptstadt. Doch weil der Ministerpräsident vom Präsidenten selbst ernannt wird, stellt dieser natürlich sicher, dass er sich von einem ergebenen Parteifreund vertreten lässt.

Ansonsten werden nur machtlose Stellvertreterposten mit Anglophonen besetzt – und das sogar in den anglophonen Regionen. Das führte dazu, dass in eigentlich englischsprachigen Schulen vornehmlich nach französischem Lehrplan unterrichtet wird; dass Richter in regionalen Gerichten weder die englische Sprache noch das dort praktizierte «common law» beherrschen.

So war es auch kein Wunder, dass vor zwei Jahren genau von dieser Art der Diskriminierung betroffene Berufsgruppen die Proteste anführten: Zuerst gingen die RechtsanwältInnen auf die Strasse, mit Talar und blonden Lockenperücken ausgerüstet; kurz darauf folgten ihnen die LehrerInnen.

Die Proteste weiteten sich aus, wurden aber gleich brutal niedergeschlagen. Führende Figuren der friedlichen Demonstrationen landeten als «Terroristen» im Gefängnis. Die verbleibenden moderaten Widerständigen sind weitgehend von bewaffneten Rebellengruppen verdrängt worden. Sie wollen eine unabhängige «Republic of Ambazonia» erkämpfen und drangsalieren dabei nicht viel anders als die kamerunische Armee die lokale Bevölkerung. Mindestens 400 Menschen sind bisher getötet worden, gegen 200 000 mussten aus ihren Dörfern fliehen.

Schweiz als Vorbild?

Es war die politische Elite in der Hauptstadt Yaoundé, die diesen Konflikt praktisch vollends zu verantworten hat, indem sie über Jahrzehnte hinweg ein einst löbliches föderalistisches Projekt in einen absurd zentralistischen Staat verwandelte. Die Schweiz wäre als politisches System wohl das bessere Vorbild gewesen als Frankreich. Ob sich Paul Biya nun unter dem Druck einer Abspaltung vermehrt mit echtem Teilen der Macht und Föderalismus auseinandersetzt, ist nicht bekannt. Bei einem seiner Aufenthalte in der «République et canton de Genève» hätte er sicher Anschauungsmaterial.

Der Präsident wird sich aber wohl fürs Aussitzen entscheiden. Schliesslich kann er auf einen gut geölten Sicherheitsapparat zählen – und darauf, dass es keinerlei Druck seiner internationalen PartnerInnen gibt. Selbst der Tod eines US-amerikanischen Missionars, der vergangene Woche ins Kreuzfeuer geriet, löste in Washington nur eine laue Reaktion aus, mit der letztlich den RegierungskollegInnen in Yaoundé das Vertrauen ausgesprochen wurde. Denn diese versprechen weiterhin das offenbar höchste Gut der «internationalen Gemeinschaft»: die Stabilität.