Die Welt nach Merkel: Eine echte Alternative für Deutschland und Europa

Nr. 46 –

Bundeskanzlerin Angela Merkel tritt als Parteichefin zurück. Für die SPD ist das eine grosse Chance.

Es ist ein grosser PR-Sieg der Rechten: Bundeskanzlerin Angela Merkel, so heisst es ringsherum, habe die CDU «sozialdemokratisiert». Dabei kann der Wirtschaftskurs, den sie seit 2005 an der Macht verfolgt, nicht anders bezeichnet werden als: hart rechts. Und sonst? Ja, Merkel hat 2015 mehrere Tausend Flüchtlinge von Ungarn nach Deutschland einreisen lassen. Doch abgesehen davon, dass sie kurz darauf ganz leise umschwenkte, fragt sich: Ist eine humane Flüchtlingspolitik bereits sozialdemokratisch?

Merkels Ruf zeigt vor allem eines, nämlich wie stark sich das politische Koordinatensystem in den letzten Jahrzehnten nach rechts verschoben hat.

Konkret zu verdanken hat Merkel ihr Image einerseits ihrem sozialdemokratischen Vorgänger Gerhard Schröder, der im hurra-kapitalistischen Geist der neunziger Jahre die CDU rechts überholte. Der «Genosse der Bosse», so sein Übername, senkte die Steuern für Unternehmen von 52 auf 38 Prozent und paukte mit seiner «Agenda 2010» eine beispiellose Deregulierung des Arbeitsmarkts durch.

Als Merkel 2005 die Kanzlerschaft übernahm, befand sich Deutschland auf einem wirtschaftlich scharfen Rechtskurs, dem man jedoch ein sozialdemokratisches Etikett umgehängt hatte. Nicht zuletzt, weil die SPD sich bis 2009 in eine Grosse Koalition mit Merkel begab. Die Arbeit war getan, Merkel brauchte den eingeschlagenen Kurs nur zu festigen. Und das tat sie trotz sanftem Lächeln mit harter Hand.

Zahlt die Schulden zurück!

Das von Merkel geerbte Wirtschaftsmodell besteht darin, dank tiefer Löhne und flexibler Arbeitskräfte möglichst viel ins Ausland zu exportieren: Ab 2002 begann Deutschland riesige Exportüberschüsse zu schreiben – also mehr ins Ausland zu verkaufen als zu importieren. Das Resultat: Das Ausland kann weniger exportieren, private Haushalte und Staaten müssen sich verschulden, um deutsche Exporte zu kaufen. Ab 2008 konnten immer mehr Privathaushalte in Europa, später auch Staaten, ihre Schulden nicht mehr tragen, die Welt geriet in eine der grössten Finanzkrisen der Geschichte.

Statt das deutsche Wirtschaftsmodell infrage zu stellen, setzte Merkel alles daran, es zu retten: Sie zwang Länder wie Griechenland, die bei deutschen Banken verschuldet waren, für ihre Schulden bis auf den letzten Cent geradezustehen. Dafür zwang sie den Ländern irrwitzige Sparkuren auf. Demokratie? Ja, aber bitte «marktkonform», forderte sie 2012. Zudem wurden die Länder aufgefordert, ihren Arbeitsmarkt zu deregulieren. Merkel kämpft für Europa. Aber für ein Europa, das die Interessen der Investoren durchsetzt. Nicht für ein Europa der sozialen Solidarität.

In den letzten Jahren hat sich die Ungleichheit in Deutschland weiter verschärft. Zwar hat Merkel auf Druck der SPD – mit der sie 2013 wieder eine Koalition einging – einen Mindestlohn von rund neun Euro eingeführt. Viel mehr als eine ganz kleine Korrektur der Agenda 2010 ist das aber nicht, wie die Exportüberschüsse nahelegen, die jährlich neue Rekordmarken erklimmen.

Nebst Schröders Agenda 2010 verdankt Merkel ihr linkes Image andererseits dem Aufstieg brüllender NationalistInnen. Neben der fremdenfeindlichen Hetze der AfD erscheint etwa Merkels Atomausstieg oder ihre besonnen vorgetragene Flüchtlingspolitik bereits als links. Obwohl sie mit dem Ausstieg lediglich einer erdrückenden Mehrheit der Deutschen folgte und sie, um Flüchtlinge von Deutschland fernzuhalten, auch nicht davor haltmacht, mit Autokraten in Mittelmeerländern Deals zu schliessen. Eine solche Politik ist nicht mal besonders liberal.

Merkels dreizehnjährige Kanzlerschaft hat wesentlich zum Aufstieg der AfD beigetragen – und den Niedergang der SPD eingeleitet.

Wahlhelferin der AfD

Erstens: Nach vielen politisch alternativlosen Jahren der Grossen Koalition war die Geburt der «Alternative für Deutschland» nur eine Frage der Zeit. Und in einer Zeit, in der SPD und CDU die Alternativlosigkeit ihres harten Wirtschaftskurses behaupten, ist es naheliegend, dass der neue politische Hauptkonflikt um Fragen der Migration und Identität entbrennt. Zweitens: Weil CDU und SPD die soziale Ungleichheit gemeinsam vertieften, war es für die eigentlich kleinunternehmerisch geprägte AfD leicht, auch ArbeiterInnen und Angestellte zu gewinnen, die laut dem Soziologen Klaus Dörre überproportional AfD wählen. Statt mehr Solidarität verspricht ihnen die AfD mehr Volk, statt sozialer Umverteilung die Verteidigung ihres kleinen Geldbeutels vor Flüchtlingen.

Nach der Ohrfeige, die sich Merkel bei den Wahlen in Hessen eingefangen hat, hat sie nun angekündigt, den Parteivorsitz abzugeben – genau wie auch CSU-Chef Horst Seehofer, der dem Druck der eigenen Partei nachgab. Die Wahl für den Parteivorsitz Anfang Dezember wird darüber entscheiden, in welche Richtung die CDU künftig steuern wird. Wer den Vorsitz übernimmt, wird voraussichtlich die CDU als KanzlerkandidatIn in die nächsten Bundestagswahlen führen – und hat angesichts der historischen Flaute der SPD gute Chancen, schon bald ins Kanzleramt zu ziehen.

Wird es Annegret Kramp-Karrenbauer, die in Umfragen führt, dürfte die CDU Merkels Politik weiterführen. Die CDU-Generalsekretärin gilt als enge Vertraute der Kanzlerin. Wird es Friedrich Merz, der Kramp-Karrenbauer auf den Fersen folgt, würde die CDU vor allem wirtschaftlich weiter nach rechts driften. Merz, Finanzanwalt, Aufsichtsrat zahlreicher Grosskonzerne, darunter der weltweit grösste Vermögensverwalter Blackrock, plädierte bereits vor fünfzehn Jahren für eine radikale Steuerreform und veröffentlichte auf dem Höhepunkt der Finanzkrise ein Buch mit dem Titel «Mehr Kapitalismus wagen».

Was macht die SPD?

Für die SPD wäre Merz eine Chance. Ein harter wirtschaftlicher Rechtsschwenk der CDU – wie ihn kürzlich auch eine Mehrheit der sogenannten Wirtschaftsweisen forderte, die Merkel beraten – würde der SPD helfen, sich von der schon fast suizidalen Ehe mit der CDU zu lösen. Seit 2005 ist die Partei in Wahlen von 34 auf 21 Prozent der Stimmen abgesackt, laut Umfragen kann sie derzeit noch mit 14 Prozent der Stimmen rechnen. Es wäre die Chance, mit Schröders Agenda 2010 zu brechen und sich als sozialpolitische CDU-Gegnerin aufzustellen.

Dies würde auch der AfD den Wind aus den Segeln nehmen. Erstens würde eine sozialpolitische Debatte zwischen den beiden Volksparteien wieder echte Alternativen bieten und der AfD-Hetze die Aufmerksamkeit nehmen. Zweitens sollte es der SPD mit sozialpolitischen Forderungen gelingen, einen Teil der ArbeiterInnen und Angestellten von der AfD zurückzugewinnen. Eine Partei, die sich auch für unterprivilegierte Deutsche einsetzt, kann diese auch leichter davon überzeugen, dass es richtig ist, sich für Flüchtlinge einzusetzen.

So könnte auch die SPD wieder – in Koalition mit der Linken oder den Grünen – an die Regierung kommen. Wenn sich ein Land mehr Sozialstaat leisten kann, dann Deutschland. Das wäre eine echte Politik für Europa, das unter Deutschlands Sozialdumping ächzt.