Fünf Jahre nach dem Maidan: Im Freilichtmuseum der Revolution

Nr. 47 –

Zwischen Wirtschaftskrise, Resignation und Aufbruch: Wie hat die «Revolution der Würde» die Ukraine verändert – und wie präsent ist ihr Erbe heute? Ein Streifzug durch die Hauptstadt.

Jedes Mal, wenn Markijan Matsech über den Kiewer Unabhängigkeitsplatz, den Maidan, schreitet, werden die Bilder wieder lebendig. Die Polizeikolonnen, die Wasserwerfer, die brennenden Reifen, die Toten. «Es war eine Revolution, ein Schlüsselmoment der ukrainischen Geschichte», ist er sich sicher. «Und ich bin froh, dass ich ein Teil davon sein durfte.»

Dieser Tage jährt sich der Maidan, die ukrainische Protestbewegung, zum fünften Mal. Am 21. November 2013 nahmen die Proteste ihren Ausgang, als der damalige Präsident Viktor Janukowitsch angekündigt hatte, das EU-Assoziierungsabkommen nicht zu unterschreiben. Doch erst die brutale Zerschlagung eines StudentInnenprotests mobilisierte die Massen, bis es Anfang Dezember zum Marsch der Millionen kam und daraus im Februar eine Revolution wurde. Janukowitsch floh nach Russland, woraufhin Moskau die ukrainische Halbinsel Krim annektierte und einen Krieg in der Ostukraine entfesselte. Ein Krieg, der bis heute anhält.

Matsech, ein IT-Unternehmer aus Lwiw, sorgte für eines der einprägsamsten Bilder des Protests. Von Polizisten umringt, setzte sich der damals 22-Jährige an ein in den ukrainischen Nationalfarben blau-gelb gestrichenes Klavier und spielte Chopin. «Ich spielte grauenhaft, weil es so kalt war», erinnert er sich heute. Walzer Opus 64. Der Klavierspieler gegen die Polizeigewalt – ein Bild, das damals um die Welt ging. Wenige Wochen später eskalierten die Proteste, mehr als hundert Menschen starben im Kugelhagel. «Ich kann nicht sagen, dass ich glücklich darüber bin, was passiert ist», sagt Matsech heute. «Aber ich bin froh, dass wir damals gegen die Unterdrückung aufgestanden sind.»

Schautafeln der Revolution

Selbst heute, fünf Jahre später, wirkt der Maidan im Herzen Kiews wie ein improvisiertes Freilichtmuseum der Revolution. Fotos der damals Gestorbenen säumen den Strassenrand und die Bäume auf der vom Maidan ansteigenden Strasse. Sie wurde inzwischen in die Strasse der Himmlischen Hundertschaft umbenannt. PassantInnen legen immer wieder frische Blumen und Kerzen vor den Bildern der Ermordeten nieder. Auf Schautafeln wird die «Revolution der Würde» erklärt, auf Ukrainisch und Englisch. Am Rand des Platzes wirbt ein Fahrer für Exkursionen nach Meschyhirja, der ehemaligen Residenz des gestürzten Präsidenten Wiktor Janukowitsch, eine Autostunde von hier entfernt.

Sie war die grosse Trophäe des Maidan: die Protzvilla aus Holz und Gold am Kiewer Stadtrand, die mit ihrem skurrilen Prunk zum Symbol der Kleptokratie unter Janukowitsch wurde. Als Janukowitsch schliesslich nach Russland floh, wurde das Gelände von Maidan-AnhängerInnen gestürmt. Die BesucherInnen staunten nicht schlecht, als sie zum ersten Mal durch die weitläufigen Parkanlagen spazierten, die zuvor zu den bestgehüteten Staatsgeheimnissen gehört hatten, Flugverbotszone inklusive. Golfplätze, ein Fuhrpark mit Oldtimern, ein Bootsrestaurant. Sogar ein Zoo, mit Straussen und seltenen Rassehunden. Heute ist das Gelände, im Volksmund auch «Museum der Korruption» genannt, ein Nationalpark und eines der beliebtesten Naherholungsgebiete der HauptstädterInnen.

An einem sonnigen, warmen Herbsttag flanieren viele Menschen durch die Parkanlagen. Darunter auch eine 41-jährige Postbeamtin mit Kurzhaarschnitt, die mit dem Bus aus dem 140 Kilometer entfernten Tschernihiw angereist ist, um den Park zu besuchen. Sie zeigt auf die blendend weissen Statuen und die mit Stuck verzierten Zäune. «Wozu brauchte ein einziger Mensch nur so viel Luxus?», sagt sie kopfschüttelnd. «Aber unsere aktuelle Regierung arbeitet auch nicht wirklich für die Menschen, sondern nur für ihre eigene Tasche.»

Die goldenen Toiletten als Magnet für den Kühlschrank – eine Anspielung auf den überbordenden Luxus, den AktivistInnen bei der Erstürmung des Anwesens vorgefunden haben wollen – sind zwar immer noch ein Verkaufsschlager an den Ständen. Doch inzwischen ist der revolutionäre Glanz des Museums gegen die Korruption verblasst. Vor den perfekt getrimmten Büschen posiert ein Brautpaar für die Hochzeitsfotos. Ob sie wissen, wer hier bis 2014 gewohnt hat? «Das spielt für mich eigentlich keine Rolle», sagt die Braut. «Wir sind wegen der märchenhaften Kulisse und der schönen Brunnenanlagen hier.»

Kommt das alte System zurück?

Seit dem Maidan hat die Erinnerung an die wilde Korruption der Janukowitsch-Ära dem Ärger über die schwierige wirtschaftliche Situation Platz gemacht. Der Krieg mit Russland und die Annexion der Krim haben die Wirtschaft in eine tiefe Krise gestürzt. Der Lebensstandard der UkrainerInnen ist infolge der Währungskrise der Hrywnja und der gestiegenen Energiepreise merklich gesunken. Dementsprechend gross ist das Misstrauen gegen Präsident Petro Poroschenko und die Regierung. In Umfragen kommt kaum ein Politiker über fünfzehn Prozent Zustimmung hinaus. Ausgerechnet ein Komiker und ein Musiker hätten laut aktuellen Umfragen gute Chancen, bei den Präsidentschaftswahlen 2019 in die Stichwahl zu kommen.

Im Gegenzug für die Hilfskredite des Internationalen Währungsfonds und der EU hat sich die Ukraine zu Reformen verpflichtet. So war auch Poroschenko einst mit dem Versprechen angetreten, die Korruption zu bekämpfen. Zwar wurden seither viele Reformen angestossen: das Nationale Antikorruptionsbüro, ein elektronisches Beschaffungssystem namens Pro-Zorro (deutsch: transparent) oder die elektronische Vermögensdeklaration, zu der eine Million BeamtInnen verpflichtet sind. Doch in Bereichen wie der Justiz tritt der Kampf gegen die Korruption auf der Stelle. Kein hochrangiger Angeklagter ist verurteilt worden. Im Gegenteil: Inzwischen werden sogar wieder AntikorruptionsaktivistInnen unter Druck gesetzt, und die Fäden laufen oft in der Präsidialadministration zusammen. Kommt das alte System zurück?

«Die Mehrheit der Politiker will, dass sich der Kampf gegen die Korruption gegen ihre politischen Gegner richtet, aber nicht gegen die Personen in ihrer eigenen Partei oder die Geschäftsmänner, die ihre politische Tätigkeit finanzieren», sagt der Kiewer Politologe Wladimir Fesenko. Weiter wird das Parlament grosso modo immer noch von den Strohmännern der Oligarchen kontrolliert. Jedes neue Gesetz, das den Filz aus Wirtschaft und Politik entflechten soll, muss unter vereinten Kräften von Zivilgesellschaft, ReformerInnen und internationalen PartnerInnen durchgeboxt werden. Jede Reform ein zäher Kraftakt.

Wird also am Ende alles so wie früher, als sich korrupte Oligarchen das Land aufteilten? Markijan Matsech, der Pianospieler vom Maidan, glaubt das nicht. Auch wenn viele unzufrieden mit der politischen Situation seien, fällt sein Resümee positiv aus. Er zählt auf: die Visumfreiheit, das EU-Freihandelsabkommen, die Polizeireform. Die Ukraine sei jetzt stärker an den Westen angebunden, und es gebe Transparenzgesetze, die es den BeamtInnen schwerer machten, öffentliche Gelder abzuzweigen. Und das Wichtigste: «Die Toleranz der Bürger für Fehlverhalten der Politiker ist heute viel geringer», sagt er.

«Natürlich müssen wir ständig dafür kämpfen, damit das alte System nicht zurückkommt», so Matsech. «Aber ich habe auch verstanden, wie schwierig es ist, grosse Veränderungen durchzusetzen.» Es sei nicht das ganze System mit Janukowitsch aus dem Land geflohen, sondern nur eine einzelne Person. Doch selbst wenn sich das alte System nach Kräften wehre, werde es die Uhren nicht wieder ganz zurückdrehen können, sagt er. Dazu sind die Geister des Maidan noch zu allgegenwärtig.