Geschlechtsspezifische Gewalt: «Patriarchale Strukturen schaden auch Männern»

Nr. 47 –

Vor 25 Jahren gründete Monika Hauser die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale. Ein Gespräch über Vergewaltigungen im Krieg, traumasensible Therapien und den Kampf gegen patriarchale Strukturen.

«Wenn ihr eure Tochter mit elf zwangsverheiratet, kommt ihr ins Gefängnis»: In Afghanistan sendet Medica Mondiale Aufklärungsspots über solarbetriebene Radios in die Provinzen. Foto: Ton Koene, Alamy

WOZ: Monika Hauser, vor 25 Jahren haben Sie die Frauenrechtsorganisation Medica Mondiale gegründet. Haben Frauen heute mehr Rechte als damals?
Monika Hauser: Auf dem Papier definitiv. Aber ihre Selbstbestimmungsrechte können Frauen noch immer viel zu wenig durchsetzen: In Deutschland etwa wurde der Paragraf 177 zur sexuellen Nötigung und Vergewaltigung erst 2016 reformiert. Davor enthielt er frappierende juristische Lücken, etwa ein geringeres Strafmass, wenn es sich bei der Vergewaltigten um eine Frau mit Behinderung handelte. Der politische Rechtsruck bedeutet für Frauenrechte zudem einen heftigen Rückschlag. Aussagen wie jene von US-Präsident Donald Trump, dass Frauen einfach verfügbar seien, haben für junge Frauen wie Männer dramatische Folgen. Sie propagieren ein Geschlechterbild, das wir längst hinter uns wähnten. Wenn sich aber der kanadische Premierminister Justin Trudeau öffentlich als Feminist bezeichnet, hilft das der feministischen Bewegung enorm.

In der Schweiz läuft gerade die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen*», die gesellschaftliche Vorstellungen von Männlichkeit und auch Gewalt gegen Männer in den Fokus nimmt. Ist das sinnvoll?
Erfreulich an der Themenwahl finde ich: Sie bringt das Thema sexualisierte Gewalt gegen Männer zur Sprache. Sowieso hätten Männer genügend Gründe, mit uns Frauen gemeinsam für mehr Geschlechtergerechtigkeit zu kämpfen. Wenn sie erkennen, dass die patriarchalen Strukturen, auf denen Alltagssexismus und sexualisierte Gewalt basieren, auch ihnen schaden, könnten wir gemeinsam dagegen vorgehen. Diesen Kampf können wir nicht alleine führen; wir brauchen reflektierte Männer an unserer Seite, die verstehen, dass sexualisierte Gewalt ein Männerproblem ist, dass die Gewalt von Männern begangen wird. Und dass die Folgen meistens Frauen, aber eben auch betroffene Männer tragen.

Medica Mondiale unterstützt Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten, die vergewaltigt und gefoltert wurden. 1993 haben Sie in Bosnien während des Kriegs das erste Frauentherapiezentrum aufgebaut. Was konnten Sie mit Ihrer Arbeit dort bewirken?
Die Aktivistinnen vor Ort haben erwirkt, dass in Bosnien und Herzegowina 2006 ein Gesetz erlassen wurde, das vergewaltigte Frauen mit Kriegsveteranen gleichstellt. Damit können sie eine monatliche Rente von 250 Euro und kostenlose medizinische und psychologische Unterstützung beantragen. Zusätzlich bedeutet das Gesetz soziale Anerkennung – und das in einer Gesellschaft, in der Überlebende von Vergewaltigungen praktisch unsichtbar sind.

Mit welchen Problemen haben die Frauen in Bosnien bis heute zu kämpfen?
Bedauerlicherweise wird das Gesetz nicht wirklich umgesetzt. Die Hauptprobleme sind nach wie vor tiefste Armut und gesundheitliche Folgen der erlittenen Traumata, die sie an der Ausübung einer Arbeit hindern. Die Frauen werden stigmatisiert und ausgegrenzt, nur ein Bruchteil erhält professionelle Unterstützung – von den über 20 000 Betroffenen nur rund 800 Frauen und 100 Männer. Die Kommission, die die Anträge auf Entschädigung untersucht, besteht vorwiegend aus Männern, die weder Empathie noch Fachkenntnisse zu sexualisierter Gewalt haben. Den Frauen wird unterstellt, sie würden lügen, um an Geld zu kommen. So kann das Verfahren die Betroffenen retraumatisieren. Entsprechend fordern die Kolleginnen vor Ort, dass die Mitglieder der Kommission eine Fortbildung im traumasensiblen Ansatz bekommen, den wir entwickelt haben.

Wodurch zeichnet sich dieser Ansatz aus?
Er zielt darauf ab, Frauen, die Gewalt erfahren haben, zu stärken, ihnen Sicherheit zu geben mit dem Ziel, dass sie ihr Leben selbstermächtigt in die eigenen Hände nehmen können. Fachleute müssen darüber Bescheid wissen, weil sonst Retraumatisierungen programmiert sind.

Seit 2015 haben Sie im Rahmen eines Pilotprojekts in Deutschland tausend Personen weitergebildet, um geflüchtete Frauen besser unterstützen zu können. Wo liegen die Schwierigkeiten in diesem spezifischen Bereich?
In Deutschland hat man soziale Themen jahrelang ignoriert und konnte deshalb nicht strukturell reagieren, als die Menschen 2015 ins Land kamen. Es mangelte etwa an niederschwelligen, nichtklinischen psychosozialen Ansätzen – genau jenen Kompetenzen also, die wir in Nachkriegsgesellschaften stärken. In unserem Projekt haben wir Sozialarbeiter, Polizistinnen und Mitarbeitende aus dem Gesundheitsamt und den Flüchtlingseinrichtungen fortgebildet, damit sie lernen, traumasensibel mit geflüchteten Frauen umzugehen: ein Erfolgserlebnis! Leider läuft in der deutschen Flüchtlingspolitik vieles falsch. Das zeigte sich etwa, als 2017 die neu gewählte Landesregierung von Nordrhein-Westfalen die Finanzierung für das Projekt nicht fortsetzte und immer deutlicher wurde, dass Geflüchtete in Deutschland keine Priorität haben.

Sie haben in Bosnien, im Kosovo, in Afghanistan und Liberia Frauentherapiezentren gegründet. Stossen Sie bei Ihrer Arbeit auf grosse lokale Unterschiede?
Es gibt natürlich kontextuelle Unterschiede. In Afghanistan etwa ist es bis heute praktisch unmöglich, über die Vergewaltigungen im Krieg zu sprechen, das Thema ist völlig stigmatisiert. Und die Frauen sind viel zu sehr mit dem täglichen Überleben beschäftigt. Wir senden über solarbetriebene Radios Aufklärungsspots in die Provinzen: «Wenn ihr eure Tochter mit elf zwangsverheiratet, kommt ihr dafür ins Gefängnis.» Dass Mädchen auch Menschenrechte haben, ist eine wichtige Botschaft für Eltern, Mullahs und Richter, die teilweise ihre eigenen Gesetze nicht kennen. Im Nachkriegsliberia ist sexualisierte Gewalt allgegenwärtig. Da fordert die sogenannte Rape Bill zwar hohe Strafen für Vergewaltiger, Verurteilungen sind jedoch äusserst selten. Wir müssen die Gesellschaft sensibilisieren. Deshalb leisten wir neben fachlicher Unterstützung immer auch politische Aufklärung, damit sich die gesamte Gesellschaft wandelt. Dieser Prozess dauert mindestens eine Generation.

Monika Hauser. Foto: Lela Ahmadzai

Sexualisierte Gewalt ist ein weltweites Problem. Was muss sich konkret ändern?
Unerträglich ist, dass wir wissen, dass laut einer EU-Studie jede zweite bis dritte europäische Frau Gewalt erlebt, die Zahl verurteilter Täter aber immer noch sehr gering ist. Allein eine Anzeige verlangt schon grossen Mut und viel Kraft, doch im laufenden Verfahren geben noch einmal viele Frauen auf, da die Gerichtsprozesse oft traumatisierend und herabwürdigend sind – auch im angeblich so aufgeklärten Europa. Das sollte der Politik und der Legislative zu denken geben. Was offensichtlich fehlt, ist der politische Wille, sexualisierte Gewalt zu priorisieren. #MeToo ist ein guter Weg. Wir brauchen nachhaltige Aufklärungskampagnen und Reflexionsräume für Männer und Frauen. Da die patriarchale Kultur von Menschen gemacht wurde, ist die gute Nachricht, dass wir diese auch wieder ändern können.

Preisgekröntes Engagement

Monika Hauser, 1959 in der Ostschweiz geboren, studierte Medizin in Innsbruck und Bologna. 1993 reiste die Gynäkologin nach Bosnien, wo sie ein multiethnisches Frauentherapiezentrum gründete. Daraus erwuchs die Organisation Medica Mondiale, die sich heute weltweit für Betroffene von sexualisierter Gewalt einsetzt. Im Jahr 2008 wurde Hauser, die heute in Köln lebt, für ihr Engagement mit dem alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet.

Istanbul-Konvention : Ohne Gleichstellung kein Ende der Gewalt

Das wurde auch Zeit: Im April dieses Jahres ist nun endlich auch in der Schweiz die Istanbul-Konvention in Kraft getreten. Das mittlerweile von 33 Staaten ratifizierte Abkommen gilt als neues und zentrales Instrument zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Denn es basiert auf einem gesamtheitlichen Ansatz: Die Konvention umfasst Massnahmen zur Gewaltprävention, zum Schutz von Betroffenen, aber auch zur Strafverfolgung von Tätern. Und sie geht zudem davon aus, dass ungleiche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern die wesentliche Ursache von Gewalt an Frauen sind. Ohne Gleichstellung kein Ende der Gewalt.

Zu diesem Schluss kommt auch das Eidgenössische Büro für Gleichstellungsfragen, das vergangene Woche eine nationale Konferenz zur Istanbul-Konvention organisierte und auf Bundesebene für deren Umsetzung zuständig ist. Dabei wurde deutlich: Damit die Konvention kein Feigenblatt bleibt, braucht es konkrete Massnahmen und den politischen Willen, diese auch umzusetzen.

Eine zentrale Rolle spielen dabei nichtstaatliche Fachstellen und Organisationen, die den Grossteil der Unterstützungs- und Schutzangebote gewährleisten. Um diese AkteurInnen zu stärken, haben sich kürzlich rund fünfzig Organisationen zum «Netzwerk Istanbul-Konvention» zusammengeschlossen. «Gewalt an Frauen wurde auf staatlicher Ebene bislang nicht als eigenständiges Thema betrachtet», sagt Simone Eggler, die als Projektleiterin bei der feministischen Organisation Terre des femmes Schweiz Teil des Netzwerks ist. Das zeige sich auch daran, dass es bisher keine statistische Erfassung von Gewalt gegen Frauen gab. Erfasst wurde lediglich häusliche Gewalt (siehe WOZ Nr. 34/2018 ). «Die Istanbul-Konvention macht es endlich möglich, spezifisch über Gewalt an Frauen zu sprechen und konkrete Massnahmen zu ergreifen.»

Der Zeitplan sieht nun eine Bestandsaufnahme vor: Sowohl der Bund wie auch die Kantone müssen die eigenen Strukturen und Angebote daraufhin überprüfen, ob sie die Istanbul-Konvention einhalten. «Es hiess immer, dass die Schweiz die Konvention bereits erfülle», sagt Eggler. «Schaut man jedoch genau hin, finden sich noch zahlreiche Lücken.»

Das Netzwerk macht sich für eine inklusive und diskriminierungsfreie Umsetzung des Abkommens stark. «Die Konvention muss allen zugutekommen: Migrantinnen, Frauen mit Behinderung sowie älteren Frauen», sagt Eggler. Deshalb formuliert das Netzwerk konkrete Forderungen, die es auf seiner Website laufend aktualisiert: etwa einen besseren Schutz für Migrantinnen mit unsicherem Aufenthaltsstatus, einen Ausbau der Frauenhausplätze, Gewaltschutz für Transmenschen und die Überwindung von geschlechtsspezifischen Rollenbildern.

Die Rolle der zivilgesellschaftlichen AkteurInnen bestehe neben der Expertise auch darin, politischen Druck auszuüben, sagt Eggler. Deshalb findet am 23. November zum Auftakt der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen*» in Zürich eine Demonstration statt – für die sofortige Umsetzung der Istanbul-Konvention (vgl. «Politour» ).

Matthias Fässler