Graubünden: Wo die Kuh ganz anders schmeckt als auf der Nachbaralp

Nr. 49 –

Vom Feld und vom Tier bis auf den Teller der Touristin: In Graubünden zeigen kluge KulinarikerInnen, wie die Wertschöpfung in den Tälern bleibt. Und die Resultate schmecken erst noch toll.

«In der Lebensmittelwerbung werden viele erfundene Geschichten erzählt», sagt Adrian Hirt. «Viele denken wohl auch, meine sei erfunden.» Kein Wunder – sie klingt fast zu perfekt: Wie Adrian als Kind viel Zeit beim Neni, dem Grossvater, verbrachte. Wie der Neni jeden Herbst einen Stotzen kaufte, auf dem Küchentisch ausbeinelte, in Wein und Gewürze einlegte, dann trocknete – nach einem Rezept von seinem Vater, Adrians Urneni. Wie Adrian, erwachsen geworden, das Rezept wiederentdeckte und heute mit seinem Start-up Alpenhirt Salsiz und Trockenfleisch von Bündner Weidekühen vertreibt. Auf dem Etikett prangt das Bild des Urneni, der aussieht wie der Alpöhi persönlich.

Sitz der Firma ist Tschiertschen, das idyllische Bergdorf zwischen Chur und Arosa. Die Lärchen über den dunkelbraunen Häusern leuchten dunkelgelb, der kleine Skilift ist bereit für den Winter. Hier, wo der Tourismus überschaubar geblieben ist, wuchs Hirt auf, bevor er zu seinen Lehr- und Wanderjahren aufbrach.

Die Wurst ist nicht mehr anonym

Hirt lernte Chemielaborant, doch in der Pharmabranche war ihm gar nicht wohl. Also studierte er Lebensmittelingenieur – nur um zu merken, wie abhängig die Lebensmittelbranche von Zusatzstoffen geworden war, «also auch von der Pharma». Er lernte schlachten und wursten, arbeitete in Kanada auf einer Rinderfarm und auf Jamaika in einer Metzgerei. Zurück in der Schweiz, wollte er wissen, wie es die Profis im grossen Stil machen, und bewarb sich beim Grossschlachthof: «7000 Schweine und 600 Rinder pro Woche. Da habe ich fast kein Fleisch mehr gegessen. Da gibt es keine Wertschätzung mehr für das Tier.»

2014, mit dreissig, gründete er Alpenhirt: als Gegenmodell zur industriellen Fleischproduktion. Für eine eigene Trocknerei hatte er allerdings kein Geld. Also besichtigte er die Betriebe, die es schon gab – Bündnerfleisch ist ein Geschäft. Als Nächstes sprach er mit Landwirten. Und stiess auf Interesse: «Sie sind froh, wenn ihre alten Kühe, zu denen sie oft eine enge Beziehung haben, nicht anonym in einem Grossschlachthof landen.» Weil Hirt kurze Wege wichtig sind, konzentrierte er sich schliesslich auf eine Region: die Surselva. Dort kauft er alte Kühe, lässt sie in Trun schlachten und in Segnas bei Disentis das Fleisch trocknen. Nur das Büro, die Logistik und der Laden sind in Tschiertschen. Da verkaufen Hirt und MitarbeiterInnen neben den eigenen Erzeugnissen auch Produkte von regionalen KleinproduzentInnen: preisgekrönten Käse aus Andeer, Schlüsselblumenlikör und Safranhonig aus Maienfeld oder Gin aus Surrein – Graubünden ist ein guter Kanton für Gourmets.

Bei Alpenhirt sind die Tiere bis zum Schluss nicht anonym: Zu den Produkten wird eine Karte über die Kuh geliefert. Darauf steht, wie sie hiess, wo sie lebte, wie alt sie wurde. Alpenhirt kauft Mutterkühe, die nicht gemolken werden, sondern mit ihren Kälbern zusammenleben. Alle dürfen im Sommer z Alp. Oft werden sie mehr als zehn Jahre alt. «Gras ist gesund für die Kuh, das Fleisch einer grasfressenden Kuh gesund für uns. Wir kaufen nur Mutterkühe, weil mir wichtig ist, dass die Tiere weder Getreide noch Soja erhalten. Denn der grösste Teil der Milchbauern kommt nicht ohne aus.»

Die meisten Trockenfleischprodukte enthalten Nitritpökelsalz: Es konserviert, gibt dem Salami die rote Farbe und das typische Aroma. Und es ist unbestritten ungesund, weil es Krebs fördern kann. Alpenhirt verzichtet darauf. Der Salsiz schmeckt nach Fleisch, nicht nach Nitrit. Manchmal erinnert er ein bisschen an Wild. Hirt verkauft auch Salsiz mit Hanfsamen oder mit äthiopischem Wildkaffee: Der schmeckt erdig, würzig, auf Kaffee käme man nicht. Auch Würste vom Hirsch, vom Esel und vom Alpschwein gibt es zu kaufen, alle nach dem gleichen Rezept: «Unser einziges Konservierungsmittel ist Rotwein.» Wie schon der Urneni bezieht ihn Hirt aus dem Veltlin.

Der Aufwand hat seinen Preis: Ein Salsiz kostet zwischen 12 und 13 Franken pro hundert Gramm. «Der Fleischpreis ist verfälscht», sagt Hirt. In der Fleischindustrie würden viele Kosten auf die Umwelt und das Tier abgewälzt. «Und ‹normaler› Salsiz enthält oft dreissig bis fünfzig Prozent Schweinefett. Das bekommt man für 2.50 Franken das Kilo – kein Wunder, können die billiger verkaufen als ich.» Für Hirt ist die Konsequenz klar: «Weniger Fleisch, dafür besseres.» Die Kühe schmeckten nicht immer gleich: «Sie leben auf verschiedenen Alpen, haben verschiedene Vorlieben, auch die Rasse macht etwas aus. Beim Wein kommt es auch auf die Sorte, die Lage, den Jahrgang an. Warum erzählen wir Geschichten über Wein, aber nicht über Fleisch?»

Das Blühen der Pizzoccheri

Sie bestehen aus ganz wenigen Zutaten: Buchweizenmehl, Weizenmehl, Salz und Wasser. Aber der vielschichtige, erdige Geschmack, der sich besonders in Kombination mit geschmolzenem Käse entfaltet, hat den Pizzoccheri der Genossenschaft Gran Alpin eine Auszeichnung der Bio Suisse gebracht, die sogenannte Gourmet-Knospe.

Bei Berglandwirtschaft denken die meisten an Tiere. Aber in den Bündner Tälern war der Ackerbau lange mindestens so wichtig. Erst in den letzten drei, vier Jahrzehnten stellten viele auf reine Viehwirtschaft um: Die Erträge der Äcker konnten nicht mit jenen des Mittellandes mithalten. Heute sieht man im Oberhalbstein, im Schams oder im Val Müstair wieder mehr Getreidefelder – dank Gran Alpin. Die Genossenschaft wurde 1987 von BäuerInnen gegründet, seit über zwanzig Jahren produziert sie vollständig biologisch. Und wächst von Jahr zu Jahr: Heute bauen rund hundert Bündner Biobetriebe Getreide für Gran Alpin an – im Unterengadin bis hinauf auf 1700 Meter über Meer. «Die Lage ist ein Risiko», sagt Geschäftsführerin Maria Egenolf. «In der Höhe ist das Getreide erst im September reif. Manchmal schneit es dann schon.»

Gran Alpin kauft den ProduzentInnen das Getreide zu einem überdurchschnittlichen Preis ab, übernimmt Verarbeitung und Vermarktung. Dabei arbeitet die Genossenschaft eng mit der Mühle Scartazzini im Bergell zusammen, die auch die Pizzoccheri herstellt. «Wir könnten nicht mehr ohne sie und sie nicht mehr ohne uns», sagt Egenolf.

Buchweizen ist kein Getreide, sondern eine Blume. Eine wunderschöne Pflanze, die im Hochsommer die Felder mit weissen Blütenwolken bedeckt, den Insekten Nektar bietet und erst noch gesund für die Menschen ist. Die «richtigen» Getreide sind für Gran Alpin allerdings wichtiger: vor allem Weizen und Gerste, daneben auch Dinkel, Roggen, Hafer und Hirse. Die Brauerei Locher in Appenzell ist neben den kleinen Bündner Brauereien Monstein und Tschlin die wichtigste Abnehmerin von Braugerste. «Und alle drei wollen mehr – wir kommen kaum noch nach», sagt Egenolf.

Biotal Puschlav

Dass regionales und ökologisches Essen den Tourismus beflügeln kann, zeigt das Puschlav. Das Bündner Südtal hat den höchsten Bioanteil der Schweiz: 96 Prozent der Fläche. Ein Regionalentwicklungsprojekt arbeitet darauf hin, dass es bald 100 Prozent sind. Der Erfolg hat Gründe: Einerseits warb der umtriebige Kräuterbauer Reto Raselli schon früh für Bio. Wohl noch wichtiger war 2007 die Fusion der Käsereien Poschiavo und San Carlo. Die neue Genossenschaft stellt nur noch Bioprodukte her – wer weiterhin Milch liefern wollte, musste umstellen.

Inzwischen ist auch der Tourismusverband aktiv geworden, um die lokalen Produkte an die TouristInnen zu bringen. Er gründete das Label «100% Valposchiavo», zehn Hotels und Restaurants sind dabei. Sie verpflichten sich, mindestens drei Gerichte aus lokalen Zutaten anzubieten, etwa die Lokalspezialität Capunet, mit Käse und Knoblauch angerichtete Spinatspätzli. «Das Ziel ist, möglichst viel aus dem Tal im Tal zu verwerten», sagt Tourismusdirektor Kaspar Howald. Was auffällt: Die Landwirtschaft dient hier nicht als Kulisse, sondern als ernst zu nehmender Produktionsfaktor.

Das Puschlav hat Glück: Neunzig Prozent der TouristInnen stammen aus der Schweiz, oft ältere Semester, die gern gut essen. Auf der Suche nach Schnäppchenangeboten wie zuweilen im Tessin ist hier niemand. «Viele haben unser Tal als Kind in den damals beliebten Ferienkolonien kennengelernt», sagt Howald. Der Tourismusverband versucht nun, jüngere, urbane UnterländerInnen ins Puschlav zu locken. Etwa mit Morgenyoga am Lago di Poschiavo, einem Kräuterfestival und einer ausführlichen, von der Zeitschrift «Transhelvetica» gestalteten Broschüre. «Gesundes Essen, Yoga, naturnah – so wollen wir uns positionieren.» Dabei bleibe das Puschlav «ein Bauerntal, das auch noch Tourismus macht», ganz im Gegensatz zum nahen Engadin. Neue touristische Bauprojekte sind tabu: «Viel lieber wäre mir, wenn ein berühmter Koch ins Tal käme.»