Pop-up-Restaurants: Gitzilunge im Tempurateig

Nr. 49 –

Essen wie Besessene: Ein ganz persönlicher Streifzug durch die nomadischen Randzonen der sesshaften Gastronomie – inklusive eines seltsam fleischigen Krauts und totgefahrenen Wildes.

Wo habe ich in den letzten Jahren nicht einfach gut, sondern neu, aufregend, ja sogar abenteuerlich gegessen? Und was? Am Anfang war Paris. Dort hatten die ersten SpitzenköchInnen schon vor längerem genug vom Korsett der Sternegastronomie, von den blasierten Regeln bezüglich Gedeck, nobler Inneneinrichtung und von den immer gleichen Zubereitungsarten der immer gleichen Luxusprodukte zu astronomischen Preisen. Sie eröffneten winzige Bistros in unscheinbaren Gassen am Stadtrand, die sie locker, günstig und nach ihren eigenen Regeln bespielten, meist nur ein paar Jahre lang, bevor sie weiterzogen. Pop-up mit etwas längerer Verweildauer.

Grillieren und Dehydrieren

In einem davon gab es nur zwei Herdplatten, dazu einen Bunsenbrenner und einen Steamer. Der Koch operierte mit einem einzigen Helfer hinter einer Glasscheibe – zum Zuschauen. Bis heute in Erinnerung geblieben ist ein kleiner Teller aus reiner Rohkost: etwas Apfel, eine halbe Haselnuss und ein einzelnes Blatt eines seltsam fleischigen Krauts, das ich Wochen später auf einer Wiese am Waldrand zufällig wiederfand. Die simplen Zutaten und der Geschmack, der mit diesem einen Bissen im Mund zusammenschoss, waren wie eine Initialzündung.

Seither bin ich auf der Suche nach solchen besessenen Wucherungen am Rand des etablierten Restaurantbetriebs, die das Kochen und das Essen in alle möglichen Richtungen vorantreiben – manchmal mit neuen Methoden und Produkten, oft auch mit wiederentdecktem Altem. Der gemeinsame Nenner ist eine durch die improvisierten Umstände diktierte Einfachheit. Und eine Konzentration auf den Eigengeschmack der Produkte, bei denen handverlesenes Regionales und Saisonales vorherrschen, jedoch ohne die SVP-mässige Fixierung auf die eigene Scholle. Gezielt werden auch fernere Einflüsse und Zutaten eingesetzt. Dazu kommt wellenartig fiebrige Begeisterung für Trends wie Fermentieren, Räuchern, Grillieren und Dehydrieren. Die Gäste wiederum teilen sich zu zweit einen Teller, was fast automatisch zu Diskussionen über das Servierte führt.

Diskutierend sassen wir also im tiefsten Winter in einem notdürftig beheizten, ausgemusterten Berliner S-Bahn-Wagen am Zürcher Letten, zu Gast bei der international geschulten Pop-up-Köchin Margaretha Jüngling. Wir froren ein bisschen, aber derlei Unannehmlichkeiten muss man in diesen Foodversuchsanstalten für die Zukunft in Kauf nehmen. So wie manchmal auch missratene Tellerchen serviert werden, die man ebenso wenig vergisst wie die guten. (Ja, ich rede von dir, du unverdauliches Risottodesaster aus Sonnenblumenkernen.)

Auf den Dachs gekommen

Doch an jenem Abend gab es nur Geglücktes. Zum Beispiel ein Häufchen von Hand geschnittenes rohes Kuhfleisch, verfeinert einzig mit etwas Olivenöl und Salz. Oder der Gang mit «verbranntem» Kartoffelbrei, Lauch und fein gehobelten ligurischen Oliven, die Jüngling aus den Ferien mitgebracht hatte. Oder Sellerie und dazu ein Stück Gitzilunge, frittiert in Tempurateig.

Die Lunge ist kein Zufall. Tiere werden in diesen Küchen auf Zeit nach Möglichkeit integral verarbeitet, oft sogar selbst geschlachtet. Die Basler Künstlerin und begnadete Störköchin Sandra Knecht geht noch einen anderen Weg. Sie arbeitet mit dem Wildhüter aus ihrem Dorf zusammen, der sie benachrichtigt, wenn ein Tier unter die Räder gekommen ist. Knecht macht aus dem totgefahrenen Wild Wurst, Schinken und Voressen und ist so etwa auf den Dachs gekommen, dessen Fleisch ihr speziell gut gefällt.

Auf einer Brache an der Basler Uferstrasse kocht Knecht an ausgesuchten Sonntagabenden für dreissig Leute. Die mehrgängigen Menüs, die sie im «Chnächt», ihrer mobilen Baracke am Rhein, auftischt, sind einmalige Erlebnisse: Keines wird je nochmals genau gleich zubereitet. Der Feind heisst Routine. Gegessen haben wir da etwa zwei dünne Scheiben Roastbeef vom Galloway-Rind, dazu Kohlrabi aus der Glut eines riesigen Hängegrills, oder ein Stück Hornhecht mit fein gehobelter Salzzitrone, in Apfelessig gepickeltem Fenchel mit Wildfenchelblüten und einer Bitterorangenkonfitüre. Zum Finale serviert Knecht einen selbstgebrannten Schnaps. Kostenpunkt: hundert Franken pro Person, alle Getränke inbegriffen.

Gewiss gibt es unterdessen auch sesshafte Beizen, die in einem ähnlich ungezwungenen und zugleich detailversessenen Stil auftafeln und kochen. Von den Pop-up-Restaurants haben sie nicht zuletzt gelernt, Essen mit Vergänglichkeit zu impfen. Als Gast bin ich so auf meine eigene Geschmackserinnerung zurückgeworfen und auf die Sehnsucht nach vergangenen Gerichten. Die Köchin ist derweil längst weitergezogen. Oder sie verspürt schlicht keine Lust, dasselbe Mahl ein zweites Mal zu kochen.