Die jüngste Nationalrätin: Auch die Busfahrt ist politisch

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Die 24-jährige Samira Marti rückt ins Parlament in Bern nach. Eine Begegnung im «Hippiedorf» Ziefen, wo die Sozialdemokratin aufgewachsen ist.

Samira Marti: «Man spürt, dass die Volkswirtschaftsstudenten noch nie Diskriminierung erlebt haben.» Foto: Ursula Häne

Zwanzig Minuten dauert die Busfahrt mit der Linie 70 von Liestal nach Ziefen. Auch wenn Samira Marti schon lange im Hauptort des Kantons Baselland lebt, kehrt sie immer wieder gerne ins Dorf zurück, wo sie aufgewachsen ist. Bei den Abstimmungen Ende November verwarfen die Baselbieter Stimmberechtigten knapp eine Prämieninitiative der SP, die die Krankenkassenkosten für Wenig- und Normalverdienende senken wollte. In Ziefen stimmte die Mehrheit zu, zur Freude von Marti: Sie postete ein Herz auf Instagram.

Anfang dieser Woche wurde Samira Marti als jüngste Nationalrätin vereidigt. Im Wahlkampf 2015 rechnete man noch damit, dass sie auf dem letzten Platz der SP-Nationalratsliste landet. Wie üblich, wenn jemand Anfang zwanzig kandidiert und als Beruf «Studentin» angibt. Aber 2015 verlief für die SozialdemokratInnen im Kanton Baselland nichts wie gewohnt. Die SP flog nach einem halben Jahrhundert aus der Regierung. Und Marti, gerade 21 Jahre jung, erreichte bei den Nationalratswahlen den zweiten Ersatzplatz.

Unterwegs nach Ziefen erzählt Marti, wie 2015 eine junge Generation die Baselbieter SP erneuert und zusammengeschweisst habe. Die Partei greife Themen auf, die viele betreffen würden, aber sie thematisiere gleichzeitig auch Sparmassnahmen, die in den Lebenswelten der breiten Bevölkerung keine Auswirkung hätten. So machte sie sich für den 70er-Bus stark, als die Verbindung mit dem letzten Fahrplanwechsel unattraktiver wurde. 2000 Unterschriften sammelte die SP-Aktion «Euse 70er» dagegen. «Das ganze Tal verpasst nun seine Anschlusszüge.» Doch so wie für den Bus wehrte sie sich auch gegen die Kürzung des Beitrags an die Aids-Hilfe. «Für die Betroffenen ist das schmerzhaft. Für den Kanton wäre der Beitrag irrelevant klein», sagt Marti.

Durchs Sparen politisiert

In Ziefen angekommen, kommt man mit Marti nur langsam vorwärts. Die Grüssquote im Dorf mit seinen 1500 EinwohnerInnen ist sehr hoch. Die meisten rufen Marti mit Vornamen; manche umarmen sie. Und wenn man sich schon einmal sieht: «Darf ich deinen 20-Liter-Kochtopf ausleihen?» «Ist im Gang, nimm ihn einfach!»

Marti nennt das Baselbiet einen «Abbaukanton». Und der Abbau beschleunige die Politisierung: «Lange haben wir hier Stillstand erlebt, aber in den letzten zehn Jahren merken alle, dass man ihnen etwas wegnimmt. Das weckt das politische Gespür.» Dabei spricht sie auch von sich selbst, denn der Widerstand gegen Sparprogramme ist Teil ihrer Biografie. «Die Diskussionen um die Schliessung der Sekundarschule Reigoldswil haben mich als Schülerin politisiert.» Die Sekundarschule wurde dank des Protests nicht geschlossen.

Als Jugendliche in Ziefen erlebte Marti die Stärke einer linken Zivilgesellschaft im Dorf. Im Zentrum wirbt eine Fahne für die Konzernverantwortungsinitiative. «Das sind die Hess-Häuser. Da drüben die Minergiehäuser», sagt sie auf einem Rundgang. Vor zwanzig Jahren habe Ziefen einen Ökobauboom erlebt. Die Strasse runter kommt man zum Dorfladen. «Eine Genossenschaft, die Leute aus Ziefen gegründet haben, als das alte Lädeli eingegangen ist.» Marti geht weiter, fast nur auf Quartierwegen. An jeder zweiten Strassenecke ist ein Kulturkeller; der Wirt der Dorfbeiz ist kurdischer Herkunft. Die Szenerie im Hintergrund: Reben am Hang. Ziefen wirkt wie ein Bullerbü, das zwischen die Jurahügel verpflanzt wurde. Manche ZiefnerInnen in Martis Alter sprechen vom «Hippiedorf».

Das Kleine im Grossen

Marti war also erst ganz praktisch politisch. Die systematische Dimension mit «Soziologie und Juso und so» sei erst vor der Matura Teil ihres Bewusstseins geworden. Heute studiert Marti Volkswirtschaft. Sie ist überzeugt, dass ihr das ökonomische Denken hilft, die Systemfrage so zu stellen, dass sie das Bestehende erschüttern kann. Der Studienalltag wäre in einem anderen Fach aber wohl angenehmer. Die MitstudentInnen hätten kaum ein Bewusstsein für ihre privilegierte Situation: «Die jungen VWL-Studenten mit viel Cash im Rücken sind überzeugt, für die Spitze der Pyramide bestimmt zu sein. Das ist ermüdend. Man spürt, dass sie noch nie Diskriminierung erlebt haben, anders als die Frauen.»

Stellt man Marti Fragen, mit denen sie gerechnet hat, sind ihre Antworten kantenfrei. Hakt man dann aber nach, erlebt man eine strukturierte Schnelldenkerin, die das Kleine im Kontext des Grossen sieht. Ohne Umschweife kommt sie von den Erfahrungen im Studium zu ihrem Hauptanliegen: dem Umgang mit Care-Arbeit.

Wie kann man dafür sorgen, dass Betreuungs- und Familienarbeit fairer zwischen den Geschlechtern verteilt wird und die verdiente Anerkennung erhält? «Ich bin für mehr Zeit, für eine Reduktion der Arbeitszeit um fünfzehn bis zwanzig Stunden pro Woche.» Die Arbeitszeitreduktion für alle würde mehr politisches Engagement bewirken. Nonstop-Arbeit und Mehrfachbelastung nähmen vielen die Energie, um eine Verbindung zwischen dem Alltag und der Politik zu erkennen.

Marti ist sich dieser Verbindung stets bewusst – nun im Nationalrat, aber auch jetzt, nach der Führung durchs Dorf, im 70er-Bus zurück nach Liestal. Gemeinsam mit einem Dutzend Fahrgästen erlebt sie einmal mehr die Folgen der Abbaupolitik. Der Bus kommt zuverlässig zu spät, sodass sie eine halbe Stunde auf den Zug Richtung Zürich warten muss.