Ernährungsfrage im Landesstreik: «Eine Sache des ganzen Volkes»

Nr. 50 –

Die BäuerInnen als genuin antisozialistische Gruppierung und «Kriegsgewinnler»? Diese historische Darstellung wird den LandwirtInnen alles andere als gerecht und verdeckt die teils sehr fruchtbare Zusammenarbeit mit ArbeiterInnen, Industriellen und KonsumentInnen.

BäuerInnen und ArbeiterInnen werden gerne als «natürliche» politische GegnerInnen konzipiert – besonders auch von Linken. Die Grundlage dieser Gegnerschaft liege im Landesstreik vom November 1918, lautet die heute immer noch beziehungsweise wieder populäre Erzählung. Sie verdeckt die interessantere und für die Entwicklung im 20. Jahrhundert viel relevantere Geschichte der Zusammenarbeit von Linksradikalen, Bäuerinnen, Industriellen und Vertretern der KonsumentInnen, die im Ersten Weltkrieg einsetzte. Diese führte in der Zwischenkriegszeit zur Etablierung einer Ernährungsordnung, in der die Arbeiterschaft mehr als nur punktuelle Erfolge realisieren konnte.

Im Landesstreik kulminierten die Konflikte zwischen ArbeiterInnen und Unternehmern. Repräsentiert wurden Letztere primär durch die Wirtschaftsverbände und den Freisinn, die ArbeiterInnen durch Gewerkschaften und die Sozialdemokratie. Die sich im Verlauf des Ersten Weltkriegs zuspitzenden Konflikte und die Sprache, in der die Auseinandersetzungen verbalisiert wurden, waren durchtränkt vom Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital in der Industriegesellschaft.

In diesen Konflikt nicht direkt involviert war die bäuerliche Bevölkerung, führte die Modernisierung der Landwirtschaft unter den globalisierten Bedingungen doch zu einer Abnahme der Lohnarbeit. Auch in der Schweiz wurden 1918 weitaus die meisten Bauernbetriebe durch Familienangehörige bewirtschaftet. Es gab nur wenige familienfremde Lohnarbeitskräfte. Und die assen in der Regel erst noch am gleichen Tisch und wohnten mit den Bauernfamilien, für die sie arbeiteten, unter einem Dach. Über die Ernährung, die spätestens ab 1916 in den politischen Auseinandersetzungen zu einem der umstrittensten Themen wurde, gerieten Bauern und Bäuerinnen dann trotzdem ins Zentrum der Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital.

Bis in die sechziger Jahre ging die Geschichtsschreibung (und einige HobbyhistorikerInnen tun dies heute erneut) davon aus, dass «die Bauern» als vermeintlich genuin antisozialistische Gruppierung die Speerspitze der Abwehr des revolutionären, angeblich von Sowjetrussland gesteuerten Umsturzversuchs darstellten. Danach zeichnete die Historiografie primär ein plakatives Bild, wonach «die Bauern» «Kriegsgewinnler» waren, deren Vertretern es nach dem Krieg erst noch gelungen sei, der schweizerischen Industriegesellschaft eine «Kuhstallideologie» überzustülpen. Beiden Vorstellungen gemeinsam ist, dass sie davon ausgehen, dass in Industriegesellschaften die Küchenschränke jederzeit voll seien und der Tisch am Morgen gedeckt. Dass es also lediglich um die Frage gehe, wie und zu welchen Bedingungen das Essen verteilt werde.

Kein Thema war, dass die bäuerliche Bevölkerung die Nahrungsmittel zuerst produzieren musste, bevor sie sie verkaufen konnte. In der Geschichtsschreibung auch kein Thema war, dass die Produktion von Nahrungsmitteln wesentlich länger dauert als die Herstellung von Gütern in der Industrie, weil im agrarischen Produktionsprozess immer auch ein Teil der Ressourcen wiederhergestellt wird. Deshalb kann die Produktion von Nahrungsmitteln nur zyklisch und saisonal, nicht linear erfolgen. Die Kuh gibt nur dann Milch, wenn sie wieder ein Kalb gebiert. Und Getreide kann man nur essen, wenn nicht alles konsumiert, sondern ein Teil davon wieder ausgesät, gepflegt und geerntet wird.

Das Ignorieren dieser Eigenheiten führte dazu, dass die soziale und politische Vielfalt innerhalb der bäuerlichen Bevölkerung zu einem weissen Fleck wurde und die schon im Vorfeld des Landesstreiks einsetzenden Kooperationen zwischen BäuerInnen und ArbeiterInnen verborgen blieben. Wenn diese jetzt doch wieder ins Blickfeld rücken und dem Landesstreik eine neue Deutung hinzufügen, liegt das primär daran, dass heute zumindest ein kleiner Teil der Geschichtsschreibung den Eigenheiten der agrarischen (Re-)Produktion endlich die nötige Beachtung zukommen lässt.

Ein Hebel für die Linke

Ernst Laur, Direktor des Schweizerischen Bauernverbands und Professor an der ETH, plädierte nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs dafür, die Landwirtschaft fortan als «Staatsdomäne» zu organisieren, um «der Truppe und der Zivilbevölkerung die notwendigen Lebensmittel zu verschaffen». Dazu wollte Laur die auf einer internationalen Arbeitsteilung beruhende Ernährungsordnung des 19. Jahrhunderts beibehalten, sie allerdings organisatorisch anders regulieren. In Zusammenarbeit mit dem Verband Schweizerischer Konsumvereine (VSK, heute: Coop), den Käseexporteuren und den Bundesbehörden gründete er eine Genossenschaft zum Export von Käse. Diese Zentralisierung der Exporte sollte dazu dienen, den Ertrag zur Verbilligung der Milch im Inland einzusetzen. Das Brotgetreide hingegen sollte, wie vor dem Krieg, importiert werden.

Der SP-Nationalrat und «Tagwacht»-Redaktor Robert Grimm kritisierte diese Strategie als einseitige Interessenpolitik im Dienst der «Agrarier» und «Käseexporteure». Wenn es im Inland ein «Überangebot» gebe, so Grimm, müssten einfach die Preise gesenkt werden. Diese Abbaupolitik, hielt Laur entgegen, würde lediglich dazu führen, dass neben den Ärmsten auch noch die Produzenten verarmten.

Solange mit Laurs Strategie der Preis für die Konsummilch im Inland unter dem Weltmarktpreis gehalten werden konnte, blieb auch das Protestpotenzial beschränkt. Das änderte sich 1916/17, als auch die im Inland produzierten Nahrungsmittel wegen der schlechten Witterung und des Rückgangs der Importe von Kunstdünger und Futtermitteln rarer und teurer wurden. Als im Frühling 1917 die Getreideimporte massiv zurückgingen, brach eine Hauptstütze weg, die von den Behörden, den Verbänden der Produzenten und jenen der Konsumentinnen getragen worden war.

Für die politisch immer noch weitgehend ohnmächtige Sozialdemokratie öffnete dies neue Möglichkeiten. Wie kein Zweiter erkannte Grimm die Hebelwirkung, die die Ernährungsfrage für die Linke nun doch noch erhielt. Lange bevor die BäuerInnen im Inland steigende Einkommen erziehlten, prangerte er sie als diejenige «Klasse» an, die durch den Krieg am meisten profitiert habe.

Allerdings war diese Problempromotion innerhalb der SP auch umstritten. Führende Repräsentanten des VSK wie Bernhard Jaeggi argumentierten, die Linke sollte sich besser zusammen mit den Produzierenden für eine Lösung des die Menschen im Alltag bedrückenden Problems einsetzen, als damit Politik zu machen. In der Folge prägten denn auch viele Linke den Ausbau der Nahrungsmittelproduktion im Inland. Jaeggi trat 1916 als SP-Nationalrat zurück und erwarb mit dem VSK Bauernbetriebe, um sich das nötige Wissen zur Produktion anzueignen. Mit der Schweizerischen Genossenschaft für Gemüsebau (SGG) begann die Arbeiterschaft, im grossen Stil Gemüse auf genossenschaftlicher Ebene anzubauen. An der SGG ebenfalls beteiligt waren bäuerliche Kreise. Auch Industrielle begannen, sich in der Produktion von Nahrungsmitteln zu engagieren. Der im linksradikalen Milieu aktive Agronom Max Kleiber kam zur Überzeugung, dass die Industriellen eine «viel vernünftigere Agrarpolitik als die Sozialdemokratie» betreiben würden, da sie die Ausdehnung der Nahrungsmittelproduktion «unter Mithilfe des städtischen Proletariats» an die Hand nahmen.

Die Schweizerische Vereinigung für Innenkolonisation und Industrielle Landwirtschaft (SVIL) war im Juli 1918 auf Anregung des Agronomen Hans Bernhard und von Jacob Lorenz, der aus der Arbeiterbewegung stammte, gegründet worden. Bernhard argumentierte ähnlich wie die Sozialdemokraten Herman Greulich, Paul Pflüger und Bernhard Jaeggi, dass es wenig sinnvoll sei, mit Appellen, Drohungen und immer neuen Verpflichtungen lauthals eine Mehrproduktion durch die bäuerliche Landwirtschaft zu fordern, wenn dieser die Produktionsmittel und die Arbeitskräfte dazu fehlten. Die Ernährungsfrage sei «eine Sache des ganzen Volkes», das Problem könne nur von den Verursachern gelöst werden – also von der Industriegesellschaft selbst.

Bauern und ArbeiterInnen im Streik

Gleichzeitig wurde auch das Verhältnis von Produktion und Konsum neu thematisiert. Hatte der Städteverband im Frühling 1916 «die Anbahnung eines richtigen Verhältnisses der Stadtverwaltungen zu den Produzenten» angeregt, so stellten im Sommer 1918 Bäuerinnen die konfrontativen Beziehungen infrage. Zum Beispiel strebte die Association des productrices de Moudon (APM), die von der Produzentin und Feministin Augusta Gillabert-Randin gegründet worden war, jenen Genossenschaftssozialismus an, der 1919 unter anderem von dem von Leonhard Ragaz und Dora Staudinger publizierten «sozialistischen Programm» formuliert wurde.

Auch diese Aktivitäten konnten das akute Ernährungsproblem selbstverständlich nicht unmittelbar lösen. Aber sie trugen viel dazu bei, dass im Landesstreik das Postulat der Ernährungssicherung nicht wie die anderen Forderungen in ultimativer Form erhoben wurde. Die Streikleitung schlug bezeichnenderweise vor, die Ernährungsfrage künftig «im Einvernehmen mit den landwirtschaftlichen Produzenten» zu lösen. Und auf der bäuerlichen Seite wurde der Streik nicht nur als «bolschewistischer Revolutionsversuch» denunziert, sondern es gab auch Voten, die in Übereinstimmung und mit Unterstützung der Arbeiterschaft kritisierten, dass der «Faktor Kapital zu mächtig geworden» sei.

Der Abschied von einer simplifizierenden, schablonenhaften, einseitig an den industriellen Verhältnissen ausgerichteten Betrachtungsweise der Agrar- und Ernährungsfrage und die seriöse Beschäftigung mit dem Potenzial und den Grenzen der agrarischen (Re-)Produktion in linken Kreisen trugen viel dazu bei, dass die Nahrungsmittelproduktion in der Nachkriegszeit aus ihrer einseitigen Weltmarktorientierung herausgelöst wurde. Sie wurde in dem Sinn flexibilisiert, dass nicht nur eine billige, sondern auch eine jederzeit genügende Nahrungsmittelversorgung gewährleistet werden konnte. Weil die Landwirtschaft dazu im Sinne eines Service public organisiert werden musste, eröffneten sich der Arbeiterbewegung in der Agrar- und Ernährungspolitik früher als in anderen Bereichen konkrete Möglichkeiten zur Mitsprache und Mitgestaltung. Und es waren auch Landesstreikveteranen wie Ernst Nobs und Robert Grimm, die diese Chancen zu nutzen begannen.

Peter Moser (64) leitet das Archiv für Agrargeschichte in Bern (www.agrararchiv.ch).