Sprachlicher Rassismus: «Es geht bei den emotialen Auseinandersetzungen mit Sprachregelungen und Begriffen immer auch um die Definitionsmacht, die die Mehrheit nicht verlieren will»

Nr. 3 –

Sprache kann ausgrenzen. Jahrzehntelang hat die offizielle Schweiz eine entsprechende Distinktionswut gepflegt. Doch Minderheiten müssen endlich zur Sprache kommen. In Kunst und Bildung ist es überfällig, den Beitrag von SchweizerInnen mit Migrationshintergrund anzuerkennen.

Zum ersten Mal wurde mir die Frage bei der Einschulung gestellt: Wo kommst du her? Der Fragesteller war ein «Gatekeeper» für den Eintritt ins Leben, ein Lehrer, der es freundlich gemeint haben wollte. Die Frage beschämte mich, während meine Klasse sie als berechtigt empfand: Der Lehrer hatte mir doch seine Aufmerksamkeit geschenkt! Würde ein Lehrer diese Frage heute in einer Klasse stellen, in der mindestens ein Viertel SchülerInnen mit Migrationshintergrund sitzen, wäre sie jegliche Unschuld los.

Das Bewusstsein für die ausgrenzende Macht der Sprache ist gewachsen, auch wenn viele in der Sprachkritik nur das willkürliche Walten einer sprachpolizeilichen Ideologie sehen wollen. Seit meiner Schulzeit ist im schweizerischen Kollektivbewusstsein einiges ins Rutschen gekommen. Unter der Oberfläche des alltäglichen Geplänkels um politisch korrekten Wortgebrauch zeichnet sich eine tektonische Bewusstseinsverschiebung ab, die die Sprache instabil macht: Der (weissen) Mehrheit wird bewusst, dass sie nicht mehr das Mass aller Dinge ist, nicht mehr so selbstverständlich wie einst der Urmeter in Paris sein kann. Das Europa der Farben ist sichtbar geworden. Zum ersten Mal stehen wir an der Schwelle, wo «Weiss» auch im Bewusstsein der Mehrheit zu einer Farbe wird und die Diversität der Gesellschaft nicht mehr verdrängt werden kann.

An diesem Auftauchen der anderen haben die zweite und die dritte Generation der Eingewanderten ihren Anteil, weil sie sich immer lauter in Büchern, Artikeln und öffentlichen Auftritten zu Wort melden. Die Gründung des Instituts Neue Schweiz (Ines) letztes Jahr ist eine logische Konsequenz; daraus geworden ist ein lockerer, schwarmförmiger Thinktank, in dem People of Color über eine neue Schweiz nachdenken. Deswegen wird ein Sprachgebrauch, der weiter alte Vorurteile zementiert, immer mehr zum Ärgernis. Denn Sprache ist kein totes Instrument, sie nimmt Verschiebungen im gesellschaftlichen Bewusstsein auf, sie zeigt dialektisch an der Oberfläche, was sich in der Tiefe bewegt. Dass zum Beispiel das Wort «Mohrenkopf» heute vielen im Hals stecken bleibt, verdeutlicht, dass Menschen mit dunkler Hautfarbe endlich «gesehen» werden. Bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts war das Wort «Neger» unverdächtig. Auch in der deutschsprachigen Literatur, wo Max Frisch im ersten Tagebuch von 1950 noch unbedenklich von «Negern» schreibt, «die pflanzenhaft vor sich hindösen». Oder noch 1981, wenn in der schönen Erzählung «Licht» von Christoph Meckel von «Negern» die Rede ist, «über die man auf Treppenstufen stolpert». Eine Textstelle, die in heutigen Ohren erschreckend klingt.

Als Jugendlicher hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass in der Schweiz einmal über Hautfarben diskutiert wird. Dass PoetInnen wie Amina Abdulkadir oder Fatima Moumouni vor vollen Sälen über die Hautfarbe «Weiss» slammen. Selbstredend ist «Weiss» nicht nur eine Hautfarbe, sondern eine politische Position, die sich in der Auseinandersetzung mit ethnischen Minderheiten definiert; auch «Schwarze» können «weiss» sein. «Weiss», meinte James Baldwin, «ist eine Metapher für Macht.»

Sprachlose Eingewanderte

Als ich im Jahr 1962 in die Schule kam, gab es dafür keine Sprache. Während sich die Mittelschicht jeden Sommer nach Spanien und Italien an die Strände begab, um sich zu bräunen, fielen die «Braunen» zu Hause einfach unter die Kategorie «Ausländer». Man grenzte aus, leise und mit jener eidgenössischen Distinktionswut, die sich an psychisch Kranken, Behinderten, Verdingkindern, Jenischen und Randständigen bewährt hatte. Wer Einblick in das fraglose Treiben des eidgenössischen Ausgrenzungsfurors der Nachkriegszeit nehmen will, kann einen Blick in das Büchlein werfen, das der Präsident der Vereinigung kantonaler Fremdenpolizei, Marc Virot, 1968 veröffentlichte. «Vom Anderssein zur Assimilation» gibt einen erschreckenden Einblick in die damalige xenophobe Grundstimmung. Virot will den Homo helveticus gegenüber der Kolonisierung durch die ausländischen «Fremdkörper» retten: «Wir wollen uns behaupten und die Ausländer auch. Die Assimilation darf nicht leicht sein! Friktionen beweisen die Persönlichkeit der Partner, Mangel an Reibungen Schwäche oder Indifferenz.»

Der Fremdenpolizist beschreibt die Einbürgerung als fairen Boxkampf, wo sie in Wahrheit ein kruder Unterwerfungsakt ist, bei dem die EinwanderInnen ihre Identität aufgeben müssen. Was dieser Anpassungsdruck bedeutete, erfuhren Generationen von Eingewanderten täglich hautnah, indem sie in allen Situationen geprüft, gewogen, untersucht, zurückgestossen und immer wieder abgelehnt wurden. Die «Unwillkommenskultur» der Schweiz war so ausgeprägt, dass sie ganze Generationen von sprachlosen Eingewanderten produzierte. Die erste Generation italienischer, spanischer oder portugiesischer EinwanderInnen kam nicht zur Sprache und hatte deswegen auch keine Geschichte. Ihre Geschichten wurden nicht zugelassen, sie tauchten weder auf der Bühne noch in der Literatur auf, schon gar nicht als Subjekte. Rassistische Abwertung verband sich mit Klassendünkel, indem man den Maurern, Bauarbeitern und dem Servicepersonal Ansprüche an kultureller Teilnahme passiv verweigerte. Heute gibt es die offizielle Kultur der Schweiz, es gibt die alternative – aber noch immer gibt es kaum kulturelle Institutionen, die sich mit der Kultur der Eingewanderten vermischen.

Nach dem Krieg interessierte weder die Geschichte meines 1958 aus Westindien eingewanderten Stiefvaters noch die meiner 1920 aus Rügen kommenden Grossmutter. Auch die befreundeten TibeterInnen im Nachbarhaus wurden nie offiziell eingeladen, von ihrer Herkunft zu erzählen. «Den Ausländern gegenüber», schreibt Virot, «sehen wir uns vor die Wahl gestellt, sie abzulehnen, sie zu dulden oder sie zu assimilieren.» Da nicht alle ArbeiterInnen in ihre Länder zurückkehrten, plädiert Virot für eine «Auslese». Er verlangt eine «ernstliche und aufrichtige Anpassung an die schweizerische Lebensart» – und schliesst alles aus, was er als «unschweizerisch» erkennen zu können glaubt. Mit pedantischem Beamteneifer listet er die Aspekte auf, die einer Assimilation günstig, und solche, die ungünstig sind. Zur ersteren Kategorie gehört, dass der Ausländer «Schweizer Sender hört» oder das «Klima gut erträgt». Oder dass er «Ferien in der Schweiz verbringt». Hingegen muss der Assimilationswille des Ausländers verneint werden, wenn er «aus einem wesensfremden Kulturkreis» stammt oder «ausländische Zeitungen» liest. «Wir dürfen nicht verlangen, ein Ausländer soll statt Chianti oder Rioja wie wir französischen Wein oder Coca-Cola trinken. Wenn er aber Vogelfallen aufstellt, bleibt er ein Fremder.» In der Öffentlichkeit soll er sich zivilisiert verhalten, also nicht grölen, Schweizer Frauen nicht belästigen und vor Schaltern ruhig in der Reihe anstehen. Diese Kriterien sind, cum grano salis, noch immer in den Köpfen virulent und flexibel anwendbar auch gegenüber immer neuen EinwanderInnengruppen.

Sprache als Herrschaftsmittel

Virot rückte damals unauffällig vom ethnisch-biologistischen Assimilationskonzept ab, wie es bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs bestanden hatte. Dieses Konzept, ursprünglich auf Druck der damaligen Neuen Rechten und ihrer ethnonationalen Agenda um die Jahrhundertwende entstanden, enthielt, wie die Historikerin Regula Argast nachgewiesen hat, offen antisemitische und völkisch-rassische Argumente und richtete sich vorab gegen Juden, Jüdinnen und slawische Völker. Nach der Schoah wurde der Assimilationsbegriff kulturalisiert, von allzu offensichtlichem Antisemitismus gereinigt und dann gegen die «kulturfernen» ZuwanderInnen aus dem Süden Europas in Stellung gebracht. Natürlich war auch dieser entrassifizierte, kulturalisierte Assimilationsbegriff, wie der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman gezeigt hat, ein Herrschaftsinstrument zur Durchsetzung hegemonialer Deutungsmacht. Der neue Assimilationsbegriff gibt nur vor, ethnisch-kulturelle Ungleichheit zu verringern, während er in Wirklichkeit die Zuschreibung von «fremd» und «eigen» verfestigt.

Auch die gegenwärtige Fremdenfeindlichkeit hat ihre Wurzeln in diesem kulturalisierten Assimilationsbegriff. Sie äussert sich kaum in offener Gewalt, sondern in einem feinmaschigen, ausgrenzenden Distinktionsgefühl, dem jedes Schuldbewusstsein abgeht. Da wird eine altgediente Fasnachtsclique in Basel darauf hingewiesen, dass es Menschen gibt, denen ihr Logo, eine paukenspielende schwarzhäutige Figur mit einem kannibalistischen Knochen im Haar, nicht gefällt. Die Cliquenmitglieder sind bass erstaunt und verfallen zuerst in jene Selbstverteidigungswut, die das ehrliche Erstaunen der Heuchelei überführt. Man organisiert eine Kundgebung für die Beibehaltung des Cliquenlogos, von deren Grösse MenschenrechtsaktivistInnen nur träumen können. Erst nach langem Ringen stellt sich so etwas wie Einsicht ein, und man verzichtet auf das Logo.

Andere erhalten die angebliche Unschuld als Selbstschutz weiter aufrecht. Denn es geht bei den emotional geführten Auseinandersetzungen mit Sprachregelungen und Begriffen immer auch um die Definitionsmacht, die die Mehrheit nicht verlieren will. Das Beharren darauf, so reden zu können, wie einem «der Schnabel» gewachsen ist, selbst wenn es andere verletzt, macht Sprache erst zu einem Herrschaftsmittel.

Wenn Minderheiten zu ihrer Sprache finden sollen und die Selbstverständlichkeit einer Mehrheit infrage stellen, kommt es, wie bei der Fasnachtsclique, sehr auf die Verständigungsbereitschaft von beiden Seiten an. Denn die Mehrheit hat ihre Privilegien zu verlieren. Und die Minderheit befürchtet, mit ihren Anliegen aufzulaufen, noch mehr ausgegrenzt und zum Ziel von Wut und Aggression zu werden. Nur ein Dialog kann die eingeschliffenen Abwehrmechanismen der Mehrheit abbauen. «So wenig, wie Weisse sich als weiss sehen», sagt die Soziologin Robin DiAngelo, «sehen sie das Fehlen von Diversität in ihren Lebensbereichen.»

Kein Blackfacing mehr

Vor längerer Zeit hat Dani Landolf vom Schweizerischen Buchhändler- und Verleger-Verband beklagt, dass das gute Drittel der Schweizer Bevölkerung mit Migrationshintergrund in den Schweizer Medien kaum vorkommt. Die Redaktionen der Medien, die Aushängeschilderjobs des Fernsehens, die Posten der politischen Repräsentation sind noch immer weitgehend ohne Menschen mit Migrationshintergrund besetzt. «In der Schweiz», schreibt der SRF-Redaktor Christoph Keller, «sind gerade mal zwei Prozent der Journalistinnen und Journalisten Juden oder Buddhisten, der Anteil der Muslimas ist gleich null.» Das bedeutet laut Keller, dass in den Redaktionsstuben nur eine Perspektive vorherrscht, auch dann, wenn Themen wie Racial Profiling oder Sans-Papiers angesprochen werden. Hartnäckig spiegelt auch das Schweizer Fernsehen zur Hauptsendezeit weiter eine Schweiz, die in ihrer Homogenität am ehesten den (Wunsch-)Vorstellungen der SVP entspricht. Es betreibt damit unentwegtes «Framing», setzt unbewusst normative und emotionale Bilder der Schweiz in die ZuschauerInnenköpfe und suggeriert das Vorhandensein einer Leitkultur. Nur wenn Redaktionen mit Menschen besetzt werden, die im Alltag andere Erfahrungen machen, weil sie eine andere Herkunft haben, kann wirkliche Diversität entstehen.

Wie sieht es in den Künsten aus? Im Theater hat man immerhin damit begonnen, Blackfacing zu vermeiden und darüber zu reden, wie man Menschen anderer ethnischer Herkunft auf der Bühne einbinden kann. Als aber die Regisseurin Anta Helena Recke vor etwas mehr als einem Jahr Josef Bierbichlers Stück «Mittelreich» an den Münchner Kammerspielen in einer gänzlich «schwarzen» Besetzung zeigte, erfasste die zünftige Kritik das blanke Entsetzen. Auch im Schweizer Film bleiben DarstellerInnen mit ausländischen Wurzeln, die ihre Geschichten einbringen und eine offene Schweiz zeigen, weitgehend aussen vor. Im Jahr 2018 sind laut Samir, dem Filmemacher und Mitinhaber der Filmproduktionsfirma Dschoint Ventschr, in neunzehn von zwanzig bei der Schweizerischen Filmakademie eingereichten Spielfilmen die HauptdarstellerInnen weiss. Ein vergleichbarer Befund dürfte auch auf die Schweizer Literatur zutreffen, obwohl mit den Büchern von AutorInnen mit Migrationshintergrund neue Perspektiven Einzug gehalten haben. Im Figurenensemble der (Deutsch-)Schweizer Romane bleiben die dreissig Prozent SchweizerInnen mit Migrationshintergrund so gut wie nicht vertreten.

Ebenso dringend wäre der Einbezug einer transkulturellen Perspektive im Schulbetrieb. So rügt der Schweizerische Bildungsrat, dass das Bildungssystem weiterhin zur Reproduktion von Ungleichheit führe. Er verweist auch auf die fehlende Sensibilisierung der Lehrpersonen bezüglich der sozialen oder ethnischen Herkunft der SchülerInnen. Fragen liesse sich auch, ob die Geschichten der tamilischen, kosovarischen, albanischen oder anderer SchülerInnen, die es zum Beispiel ins Gymnasium schaffen, in den Lehrplänen gespiegelt werden. Vorherrschend ist der Stoff, wie ihn PädagogInnen ohne Migrationshintergrund verfasst haben.

Eine gespaltene Gesellschaft droht

Die schweizerischen Kultur- und Bildungs- institutionen machen mit den Integrations- bemühungen nicht vorwärts. Während in der Fussballnationalmannschaft ein erkennbarer Teil der Spieler Secondos sind, die nicht nur den Anteil der eingewanderten Bevölkerung repräsentieren, sondern diese auch zur Identifikation einladen, fehlen People of Color in anderen Bereichen an allen Ecken und Enden. Die helvetischen Ausschlussmechanismen spielen weiterhin unauffällig und unbewusst. Und das ist die beste Art, sie nicht infrage zu stellen und weiter von den Privilegien zu profitieren. Dabei gäbe es, allein durch die Diversität der Landesteile und Sprachen, einen Erfahrungsschatz im Umgang mit Minderheiten, der genutzt werden müsste. Verpasst man die Chance, die Menschen einzubinden, deren Geschichten jetzt aus dem Sprachlosen auftauchen, droht eine gespaltene Gesellschaft.

Martin R. Dean Foto: Maia Wackernagel

«Woher kommst du?», ist noch immer eine Schlüsselfrage in Gesprächen, in denen es um die Zuschreibung von Herkunft und um die Neugier gegenüber dem anderen geht. Jedem aber dürfte heute klar sein, dass diese Frage für jemanden mit arabischer, tamilischer oder afrikanischer Herkunft intimer und deswegen verletzender sein kann als für jemanden, der einen St. Galler Dialekt spricht. Dass über diese Themen gelassener gestritten würde, dass sie nicht mehr schamvoll verschluckt werden müssten, darin bestünde ein nicht unbeträchtlicher Fortschritt.

Ein profilierter Beobachter

Martin R. Dean (63) wurde in Menziken AG als Sohn eines Trinidaders indischer Herkunft und einer Schweizerin geboren. Er studierte Germanistik, Philosophie und Ethnologie, arbeitete dann als Gymnasiallehrer, unterbrochen von mehreren längeren Auslandsreisen.

Seit dem Romanerstling «Die verborgenen Gärten» (1982) hat er ein gutes Dutzend Bücher veröffentlicht. Zuletzt erschienen der Roman «Falsches Quartett» (2014) und der Essayband «Verbeugung vor Spiegeln. Über das Eigene und das Fremde» (2015).

Auf den 1. März angekündigt ist ein neuer Roman, «Warum wir zusammen sind» (Verlag Jung und Jung). Dean lebt in Basel.