Kain und Abel im deutschen Urwald. 
Der eigenartigste Film in Solothurn kommt von einem Schweizer in Mexiko. In den 
Hauptrollen: die zwei letzten Nachkommen 
einer germanischen Kolonie.

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Ganz gewiss kein Happy-Bett: So schlafen die Gebrüder Schweikhart in Pablo Siggs Film «Lamaland». Still: Siggfilm

Zwei alte Brüder, allein auf einem abgeschiedenen Hof. Ihre Routinen verrichten sie wie in Zeitlupe: Fallobst auflesen, einen alten Schlappen flicken. Das Holz schlagen sie von Hand, ihre dünne Suppe brühen sie in einem alten Topf auf dem Feuer.

Das muss wieder einer dieser Schweizer Heimatfilme sein, wie sie periodisch immer neu ins Kraut schiessen. Landschaftsmalerei mit dokumentarischem Anspruch, frönt dieses Kino dem kargen Leben am Berg, es zeigt die tägliche Mühsal und die einfachen Freuden. Alpsegen, Wildheuen, was darfs diesmal sein?

Aber nein, wir sind hier nicht unter Schweizer Bergbauern, sondern im Dschungel von Paraguay. Genauer gesagt auf einem heruntergekommenen Hof von Nueva Germania, dem Überbleibsel jener deutschen Siedlung, die Friedrich Nietzsches Schwester Elisabeth (1846–1935) einst mit ihrem Ehemann Bernhard Förster gründete. Eine «rassenreine» Kolonie sollte es sein, ein vegetarisches arisches Paradies mitten im Urwald, inspiriert von Richard Wagners Schrift «Religion und Kunst».

Der subtropische Traum von einem «Neuen Deutschland» sollte nicht lange Bestand haben. Krankheiten machten den Deutschen schon früh zu schaffen, man war dann doch auf Hilfe der Einheimischen angewiesen. 1889, rund drei Jahre nach der Gründung, brachte sich Elisabeth Nietzsches Ehemann um, vier Jahre später kehrte Elisabeth ihrem siechen Paradies den Rücken, um sich in Deutschland um ihren kranken Bruder zu kümmern.

Nueva Germania gibt es noch immer, als ethnisch durchmischtes 4000-Seelen-Kaff. Nur etwa fünf Prozent der EinwohnerInnen sind deutschstämmig, vom einst erträumten Biotop einer «reinen» deutschen Kultur ist so gut wie nichts übrig. Die Gebrüder Friedrich und Max Josef Schweikhart sind angeblich die letzten direkten Abkömmlinge der vierzehn deutschen Familien, die sich bei der Gründung einst dort niederliessen. Vor zwölf Jahren kreuzte ein Videoreporter von «Vice» auf ihrem ärmlichen Gut auf und gab die beiden als trottelige Kannibalen der Lächerlichkeit preis («The Last Aryans of Paraguay», 2007).

Der Schweizer Pablo Sigg, geboren 1974 in Mexiko, nimmt sich mehr Zeit. Viel mehr Zeit. Sigg besuchte die Brüder immer wieder längere Zeit mit der Kamera und drehte zunächst einen Dokumentarfilm über sie, «Der Wille zur Macht» (2013). Auf dem halb verfallenen Hof der Schweikharts spielt jetzt auch sein dreiteiliger Spielfilm «Lamaland», den er allein auf 35 Millimeter gedreht hat, ohne Crew und mit den beiden greisen Brüdern als einzigen Darstellern. Der zweite Teil ist auch schon abgedreht und wird nächstes Jahr zur Premiere kommen, der dritte Teil soll 2022 folgen.

Der Rest ist Schweigen

Der erste Teil kommt daher wie ein biblischer Western kurz vor der Totenstarre. Wir sind hier an der letzten Frontier, wo überkommene Utopien ihr jämmerliches Ende gefunden haben. Die Welt ist löchrig geworden, der Ventilator im Haus dreht sich schon lange nicht mehr, verkrustet mit Staub. Die zwei greisen Männer gehen stumm ihren kleinen Verrichtungen nach, jeden Tag essen sie ihre gekochten Maniokwurzeln, einer misst umständlich ein Grab aus, einer spielt Karten mit sich allein: «Schwarzer Peter», was denn sonst, aber völlig erratisch. Es ist wie «Warten auf Godot», irgendwo auf einer tristen Parzelle, die man dem Dschungel abgerungen hat.

Hin und wieder schaltet einer ein altes Transistorradio ein, dann ertönt knisternd das englische Palaver eines Rundfunkpredigers. Die Brüder selber haben einander nichts zu sagen, das Sprechen haben sie sich, wie es scheint, schon lange abgewöhnt. Nur einmal, als er allein an seinem Mate nuckelt, entfährt einem der beiden ein einziges Wort, es könnte eine Verwünschung oder eine Beschwörung sein: «Satan.» Dann ist es wieder still, bis auf den leise dräuenden Gong, der auf dem Soundtrack gelegentlich an- und wieder abschwillt. So dehnt sich die Zeit, bis sie zum Erliegen kommt – und dieses minimalistische Epos in der tropischen Dämmerung langsam verraucht, in einer einzigen magistralen Einstellung von acht Minuten.

Umwuchert von Geschichte und Geraune, hat Nueva Germania immer wieder die Fantasien befeuert – als ideologische Ruine, auf die man alles Mögliche projizieren kann. Nach dem Zweiten Weltkrieg soll sich eine Zeit lang der Naziarzt Josef Mengele hier versteckt haben. Notorisch geworden ist dann eine sensationsheischende BBC-Dokumentation von 1992, die Aufnahmen der heutigen Gemeinde offenbar mit historischem Material von Naziparaden aus dem «Dritten Reich» montierte.

Später wecken die Überreste der deutschen Kolonie das Interesse des US-Komponisten David Woodard, der seine Faszination für dieses «arische Vakuum» mitten im Dschungel mit dem Schweizer Schriftsteller Christian Kracht teilt. Woodard sieht in Nueva Germania «einen ästhetischen Schutzort, wie ihn sich Richard Wagner erträumte, ein Ort, an dem sich Arier friedlich dem Leben und der Verbesserung der germanischen Kultur widmen können». So schreibt er andächtig an Kracht, der Woodard in seinem Traum von einem Wiederaufbau der deutschen Kolonie bestärkt. (Als der «Spiegel»-Journalist Georg Diez im Februar 2012 dann Kracht zum Türsteher rechtstotalitären Denkens zu stempeln versucht, führt er als Beweisstück nicht zuletzt dessen Austausch mit Woodard über Nueva Germania ins Feld.)

Stiller Protest

Was nun Pablo Sigg in «Lamaland» mit diesem Ort macht, ist frei von solchen deutschtümelnden Liebäugeleien. Im ersten Teil, der letztlich von einem Brudermord handelt, besetzt er die Gebrüder Schweikhart als Umkehrfiguren zu Kain und Abel. Die beiden, so schreibt der Regisseur in einem klugen Essay zur Entstehung seines Films, bildeten nicht den Keim einer neuen Gemeinschaft, sondern markierten als letzte Exemplare das Ende einer alten: zwei kinderlose Brüder, die in einer Art stillem Protest ihren eigenen Stammbaum sabotierten, indem sie ihn austrocknen liessen.

Damit spiegelt sich in den Schweikharts auch das Geschwisterpaar, das am Anfang der unheimlichen Utopie von Nueva Germania stand: Friedrich Nietzsche und seine Schwester Elisabeth, auch beide kinderlos. Und in den Gebrüdern Schweikhart, so Sigg, komme «nicht nur der Stammbaum ihrer Familie ans Ende, sondern auch der ideologische Traum ihrer Gemeinschaft».

Lamas gibts übrigens keine im Film. «Mein liebes altes Lama» nannte Friedrich Nietzsche seine Schwester Elisabeth, ihrer Sturköpfigkeit wegen. Als diese ihm ein Stück Land in Nueva Germania zum Kauf anbot, gab er spöttisch zurück, das Grundstück sei nicht etwa Friedrichshain zu taufen, sondern «Lamaland», zu ihren Ehren. Gekauft hat ers nicht.

In: Solothurn, Kino Canva, Sa, 26. Januar 2019, 14.30 Uhr, und Di, 29. Januar 2019, 11.30 Uhr.

Lamaland (Teil 1). Regie: Pablo Sigg. Schweiz/Mexiko 2018