Vernon Subutex: Tausend Seiten im Schnelldurchlauf

Nr. 5 –

Die erste Bühnenfassung von Virginie Despentes’ Trilogie über den sozialen Absteiger Vernon Subutex besticht durch Spielfreude und die Wucht des Texts. Doch die Interpretation der Frauenfiguren irritiert.

Hüpfen, tanzen, rennen und viele Worte: Szene aus der «Subutex»-Aufführung am Theater Neumarkt. Foto: Maurice Korbel

«Ich bin ein Penner auf einer Bank hoch oben auf einem Hügel, in Paris.» Vernon Subutex, dargestellt von Martin Butzke, kniet am Boden, von Kopf bis Fuss mit Schmutz beschmiert, die Hand zum Betteln ausgestreckt. Der letzte Satz des ersten Bandes der Vernon-Subutex-Trilogie von Virginie Despentes ist auch der letzte Satz vor der Pause im Zürcher Theater Neumarkt. Dieses hat unter der Regie von Peter Kastenmüller die drei Romane erstmals überhaupt auf die Bühne gebracht.

Über zweieinhalb Stunden lang hat man da dem ehemaligen Plattenladenbesitzer Subutex bereits bei seinem sozialen Abstieg zugeschaut: wie er, abgebrannt und ohne Wohnung, ehemalige Freunde und Freundinnen aufsucht, um ein, zwei Nächte bei ihnen unterzukommen. Gemeinsam erinnern sie sich an die alten Zeiten, mit wilden Partys, Koks im Blut und an der Nasenspitze und schnellen Ficks auf dem Klo.

Eine Menge Figuren aus dem Roman treten auf, mal als ErzählerInnen, dann wieder als sie selbst: der Kommunist Patrice, die ehemalige Pornodarstellerin Pamela Kant, Emilie, die frühere Bassistin, Xavier, ein rechter Drehbuchautor, und natürlich die «Hyäne», die in den Romanen die Geschichten zusammenhält – furchtlos, unverletzbar und fähig zu allem. Sie soll im Auftrag des schmierigen Filmproduzenten Dopalet Videobänder auftreiben, die Subutex besitzt und die Dopalet eventuell schaden könnten.

Zu Nebenfiguren degradiert

Gespielt wird im Neumarkttheater über die ganze Länge des Theatersaals. Ein zickzackförmiger schmaler Laufsteg verbindet die Bühne mit einer Leinwand am anderen Ende des Raumes. Auf der Bühne steht ein DJ-Pult mit Rollen, das mal von Subutex bedient, dann wieder zur Seite geschoben wird. Auf die Leinwand werden die Namen der jeweils Auftretenden projiziert, was hilft, den Überblick über das imposante neunzehnköpfige Figurenkabinett zu behalten, das von acht SchauspielerInnen gespielt wird. Sie machen das mit enorm viel Körpereinsatz und Präsenz, hüpfen, tanzen, rennen über die Bühne, dann stehen oder sitzen sie wiederum ruhig an Ort und sprechen unglaublich viel Text. Und auch nach über vier Stunden zeigen sie keinerlei Ermüdungserscheinungen.

Doch bei aller Freude an diesem grossartigen Ensemble überwiegt doch der Ärger über den Umgang der Regie mit den Frauenfiguren. Sind diese bei Despentes allesamt zwar kaputte, aber doch starke und eigenwillige Persönlichkeiten, macht Kastenmüller sie zu lächerlichen Karikaturen – wenn er sie nicht gleich ganz herausstreicht oder zu unwichtigen Nebenfiguren degradiert. Einzig Marie Bonnet als Hyäne behält die trockene Coolness, die sie auch im Buch auszeichnet. Ganz im Gegensatz etwa zu Pamela Kant. Im Buch ist die Ex-Porneuse ziemlich auf Zack, eine prima Organisatorin, die alles im Griff hat. Auf der Bühne wird sie zu einer leicht debil wirkenden, kichernden Sexbombe. Und das liegt nicht am Spiel von Sarah Sandeh, sondern an dem, was die Regie in Pamela Kant sehen will.

Am ärgerlichsten ist jedoch Olga: Die riesige, rothaarige Bettlerin ist im Buch ein «unförmiges Geschöpf», «dreckig und heruntergekommen», ihr Speichel sprüht, wenn sie spricht und wild herumschreit. Und was macht Kastenmüller aus ihr? Er steckt den Schauspieler Jan Bluthardt in einen knallengen pinken Overall, versieht ihn mit einer pinken Perücke, riesigen spitzen Brüsten und zwei knackigen Pobacken (haha!) – was die NZZ zur seltsamen Aussage veranlasste, Olga sei «die Transfrau aus Brasilien», «ein Monster an Sex-Appeal». Bei aller künstlerischen Freiheit, die man dem Regisseur gerne zuspricht, ist in dieser Umdeutung doch etwas schiefgelaufen.

Lesen reicht alleweil

Dasselbe gilt auch für die Bearbeitung der über tausendseitigen Romantrilogie, die Kastenmüller gemeinsam mit der Dramaturgin Inga Schonlau für die Theaterfassung drastisch zurechtgestutzt hat. Während der erste Band extrem ausführlich erzählt wird, werden Band zwei und drei nach der Pause im Schnellverfahren abgespult. Wer die Bücher nicht gelesen hat, kann den Sprüngen und Schnitten kaum folgen. Es wird viel getanzt, und am Ende sind alle tot, ausser Subutex.

Dabei ist das Bestechende an Despentes’ Trilogie ja gerade, dass Subutex in Teil zwei und drei immer mehr aus der Erzählung verschwindet und rund um ihn eine Menge anderer brisanter Geschichten entstehen. Doch da die Inszenierung auf ihn fixiert bleibt, fallen viele dieser Episoden unter den Tisch. So wird die Missbrauchs- und Rachegeschichte von Aïcha und Céleste – ein Kernstück des zweiten Bandes – in nur wenigen Sätzen abgehakt. Später darf dann noch Dopalet, an dem sie sich gerächt haben, erzählen, wie er zu seinem blutigen Rücken gekommen ist. Doch die Stimmen der zwei jungen Frauen, ihr ganzer Furor, der zu dem Gewaltakt führt, und ihre Vorbereitungen darauf, die hört man nirgends.

Dass der Theaterabend trotzdem Vergnügen bereitet, liegt neben dem engagierten Spiel des Ensembles hauptsächlich am Text: Despentes ist eine brillante Analytikerin der Gegenwart, ihr Schreibstil ist direkt, schonungslos und mitreissend. Im Grunde ist die Subutex-Trilogie ein Text, der gar keine Bühne braucht. Die Romane zu lesen, reicht alleweil.

«Das Leben des Vernon Subutex». Regie: Peter Kastenmüller, im Theater Neumarkt in Zürich. www.theaterneumarkt.ch