Auf allen Kanälen: Ein Netz vor dem Netz

Nr. 6 –

Das Fanzine «Maximum Rocknroll» war einst ein wichtiger Knoten der aufmüpfigen globalen Musikszene. Bald erscheint es zum letzten Mal.

www.maximumrocknroll.com

Bibel des Hardcore wird das Fanzine «Maximum Rocknroll» oft genannt, halb spöttisch, aber nicht ganz unernst. Als papierenes Fossil erinnerte es unverdrossen an jene Zeit in den achtziger Jahren, da sie überall wie schöne, stachlige und giftige Pilze aus dem Boden schossen: unzählige Bands, Kleinstplattenlabels, Hinterhofläden und Fanzines. Denn von wegen «No Future»! Kaum war die erste Punkwelle Ende der Siebziger abgeebbt, hiess der Imperativ «Do it yourself!», und: «Play faster!»

Während sich in England KunststudentInnen und BildungsbürgerInnen im Post-Punk ausheulten, traten an der US-Westküste wütende, manchmal proletarische, meist aber mittelständische und nicht selten migrantische Kids aufs Gaspedal. Immer simpler und brachialer wurde die Musik: The Germs, Black Flag, Middle Class, Circle Jerks oder die Deadbeats («Kill the Hippies!»). Punk? Für diese Kids war er das Gestern, ein stinkender Leichnam, in den Topplatzierungen der Charts verreckt, ein verfluchter Beschiss.

«Maximum Rocknroll» (kurz: «MRR») begann 1977 als Radiosendung. Von Berkeley aus liessen Ruth Schwarz, Jello Biafra (später Sänger der Dead Kennedys) und Tim Yohannan den aufrührerischen Sound auf die Kleinstädte des Silicon Valley regnen. Die Musik kam zur richtigen Zeit: Der lange, schmerzhafte Kater der Seventies war vorbei, nun zauberten Lötkolben in kalifornischen Garagen schnell rechnende Computerplatinen hervor, und SkateboarderInnen zeichneten in den leeren Swimmingpools verlassener Häuser wilde Figuren auf den Beton. Bald würde dieses kalifornische Nebeneinander von Kreativität und Traditionsbruch mit dem Internet verschmelzen und die globale Ökonomie neu formatieren.

Die Letzte wie die Erste

Die Idee von «MRR» freilich war eine ganz andere. Mit dieser Musik, die sich wie ein Lauffeuer durch die Highschools frass, müsste man doch Anpassertum und Konsumismus den Garaus machen können! Tim Yohannan (1945–1998) war schon in den Sechzigern dabei gewesen, als sich Musik und Protest ineinander verwoben. Nun trieb er den Plan voran, aus der Radiosendung ein schlagkräftiges Fanzine zu machen. 1982, Hardcore war bereits zum globalen Untergrundphänomen geworden, erschien die erste Ausgabe von «MRR» – und wenn im Frühjahr 2019 die letzte erscheint, so werden sie sich kaum voneinander unterscheiden: kratziges, schmutziggraues Zeitungspapier, billig bedruckt mit sich leicht lösender Druckerschwärze, die nicht bloss die Finger verdunkeln, sondern auch auf die Wertvorstellungen der LeserInnen abfärben sollte.

Argwöhnisch wachte Yohannan über den Inhalt, wollte dem politisch ursprünglich indifferenten Hardcore seinen Stempel aufdrücken: Links sollte er sein, musikalisch schnörkellos, selbstproduziert. Alles andere hatte auf den Seiten des monatlich erscheinenden, weltweit gelesenen «MRR» – es erreichte Auflagen von 20 000 Exemplaren – nichts verloren.

Im Moderkeller

Die Redaktion arbeitete ohne Lohn, lebte aber kostenlos unter dem Dach des «MRR»-Hauses in San Francisco, wo die Fäden zusammenliefen. Ein weltumspannendes Netz von SchreiberInnen dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs berichtete aus den lokalen Szenen; in einer Unzahl von LeserInnenbriefen und Kolumnen beschäftigte man sich mit grossen und kleinen Fragen der Politik, oft aggressiv und verbissen. Thematische Schwerpunkte erörterten die drängenden Themen der Zeit: Hunger, Krieg, Sexismus, Rassismus.

Am meisten beachtet aber wurden die Plattenkritiken. Nur sie ermöglichten es, über die weltweit erscheinende, oftmals nur lokal bekannte Musik informiert zu sein. Über Kleinanzeigen wurden zu Minipreisen Platten angeboten, die heute auf SammlerInnenmärkten zum Teil horrende Summen erzielen. Aber auch Übernachtungsmöglichkeiten, Treffpunkte oder Brieffreundschaften wurden inseriert. Und wer in den Achtzigern auf Hardcorepfaden durch die USA reiste, für die oder den gehörte eine Nacht im modrigen Keller des «MRR»-Hauses, umgeben von Zehntausenden von Platten, einfach dazu.

Das Heft war über Jahre einer der wichtigsten Knotenpunkte einer enthusiastischen und aufmüpfigen Musikszene – es war der Server eines Internets vor dem Internet. Nun hat dieses Internet sich doch noch an ihm gerächt.