Ein Traum der Welt: Nicht reisen

Nr. 7 –

Annette Hug liest das neuste Buch von Gerald Murnane

«Ich habe mich nie weiter als eine Tagesreise per Strasse oder Schiene von meinem Geburtsort entfernt. Fremde Länder existieren für mich als geistige Bilder, manche von ihnen lebendig und detailreich, und viele von ihnen entstanden bei meiner Lektüre fiktionaler Werke», sagt der Erzähler im Buch «Grenzbezirke» von Gerald Murnane. Nach dem Tod seiner Frau hat er sich in den Norden des australischen Bundesstaates Victoria zurückgezogen, um die Welt ganz so zu sehen, wie sie sich ein Leben lang in «geistigen Schauplätzen» abgelagert hat. Wobei das Wort «lagern» in die Irre führt: Die inneren Bilderfolgen sind in ständiger Bewegung.

England war zwar immer weit weg, doch trat es Schulkindern permanent entgegen: «Das Bild, das ich von England habe, ist das einer zumeist grünen topografischen Karte, die zwar reich an Einzelheiten ist, doch vergleichsweise klein für ein Land der Vorstellung», sagt Murnanes Erzähler, der sich nur für Einzelheiten interessiert, zum Beispiel für Buntglas, das ihm eine Erinnerung nach der andern entlockt. Am neuen Wohnort wird er von einem Kirchenfenster aufgehalten, es lässt ihn an ein bestimmtes Haus seiner Kindheit denken, an Murmeln und an Männer, die im 17.  Jahrhundert durch «England zogen und Buntglasfenster zerschlugen. Auf Leitern stehend, zerschmetterten die Männer das Glas mit Knütteln oder Äxten.» Es entstand ein England, wo Buntglasscherben zu Haufen gewischt, vielleicht versteckt wurden. «Trugen Kinder Hände voll mit bunten Splittern fort und linsten dann durch sie hindurch auf Bäume oder den Himmel …?»

Das Buch weckt eine Sehnsucht nach Welten, die zu entdecken wären, würde man nicht reisen, sondern Zeit haben, den Impulsen der Vorstellung zu folgen, aber auch Zeit zum Nachfragen – ich nehme mir vor, einen Brief zu schreiben. Meine Freundin Flor Caagusan in Manila möchte ich fragen, wie sie sich Belgien genau vorgestellt hat. Vor zwanzig Jahren ist sie in die Wechseljahre gekommen und hat sich aus diesem Anlass an eine belgische Nonne erinnert. Als kleines Mädchen war sie auf einer Schulbank im Norden der Philippinen Zeugin geworden, wie diese Frau plötzlich ihren Schleier vom Kopf riss. Ihre Kopfhaut war gerötet, die Haare waren schweissnass. Das Mädchen konnte sich den Anfall der Lehrerin nur so erklären, dass Belgien ein unerhört kaltes Land war und der weisse Körper einer Nonne dem tropischen Klima hilflos ausgesetzt. Erst als Flor selbst die ersten Wallungen erlebte, dachte sie wieder an die heftige Bewegung, mit der die Nonne ihren Habit entstellt hatte. Und sie wusste mit einem Mal: Die Lehrerin war damals in die Wechseljahre gekommen. Hat sich da Belgien – als «geistiger Schauplatz» einer philippinischen Rentnerin – verändert?

Der Erzähler in Gerald Murnanes Bericht lässt sich von Impulsen leiten, die ihn nach Ungarn führen oder nach Virginia. Von überall her kommt er irgendwie zur Frage, wie die religiös aufgeladenen Bilder seiner Kindheit ihre Macht verloren haben – wie sie einfach nur Bilder wurden, was der Erzähler nicht bedauert. Bei aller Trauer, die im Text mitschwingt, erscheint die geistige Bildwelt als Eldorado der LeserInnen und der Fans, die wie Murnanes Erzähler Pferderennen am Radio verfolgen. Die inneren Landkarten, die dabei entstehen, sind psychedelisch zu nennen.

Annette Hug ist freie Autorin in Zürich. «Border Districts» ist ihr in Melbourne in die Hände geraten. Jetzt liegt die Übersetzung «Grenzbezirke» von Rainer G. Schmidt in der Bibliothek Suhrkamp vor.