Annie Ernaux: Die Patin

Nr. 10 –

Kaum jemand wird heute unter französischen AutorInnen so oft als Inspiration zitiert wie Annie Ernaux. Warum ihre Auseinandersetzung mit ihrer einfachen Herkunft nicht nur sprachlich eine Offenbarung ist.

Dies ist nicht zuletzt die Geschichte einer längst überfälligen Anerkennung. Spätestens vor drei Jahren hätte uns ihr Name im endlich auf Deutsch übersetzten und hymnisch gefeierten autobiografischen Essay «Rückkehr nach Reims» auffallen müssen. Der französische Soziologe Didier Eribon zollte darin der hierzulande noch wenig bekannten Schriftstellerin Annie Ernaux grössten Respekt. Im Nachfolgebuch «Gesellschaft als Urteil» widmet er ihr ein ganzes Kapitel. Ohne ihre literarische Vorarbeit wären seine eigenen Bücher kaum möglich gewesen. Auch Virginie Despentes zitierte Annie Ernaux kürzlich als Inspiration für ihre unerschrockene literarische Gegenwartsprobe «Vernon Subutex».

Schon Jahrzehnte vor Despentes’ Kaleidoskop der Abgestiegenen und Eribons Lebensrückblick auf seine «Klassenflucht» aus ärmsten Verhältnissen hatte die heute 78-jährige Ernaux begonnen, ihre eigene proletarische Herkunft akribisch zu kartografieren. Doch anstatt sich einer «schonungslosen Selbstanalyse» (Ernaux über Eribon) zu unterziehen, schuf Ernaux das Genre der unpersönlichen Autobiografie. Die von vielen, zumeist männlichen Kollegen wortreich beschworene Entfremdung zwischen den Familienverhältnissen von damals und dem heute schreibenden Ich ist bei ihr direkt in die Schreibweise gegossen. Ernaux’ Sprache ist karg, sachlich, ohne stilistische Schnörkel. Gefühle gären höchstens im Leerraum zwischen den Wörtern. Von sich selber schreibt Ernaux in der dritten Person. Die soziale Realität formt das Subjekt, nicht umgekehrt.

Erste sexuelle Erlebnisse

Vielleicht am deutlichsten zum Tragen kommt diese analytische Selbstdistanzierung in «Die Jahre», Ernaux’ entlang von privaten Fotografien biografisch vorgespurtem und doch ganz überpersönlichem Parcours durch knapp siebzig Jahre ihres Lebens. Lakonisch vermisst sie die grossen Themen, in denen das Private mit dem Politischen ringt, berichtet von ihrer bildungsfernen Herkunft als Tochter eines Krämerladenpächters, vom Heranwachsen in der nordfranzösischen Kleinstadt Yvetot, von der Ausbildung zur Lehrerin, von Familiengründung, Scheidung, Affären; von französischer Politik und dem revolutionären Bruch von 1968. Und sie erwähnt die «Halbeinsamkeit», in der sie sich ein Leben lang wiederfindet: zuerst als grüblerisches Kind, das sich im einfachen Elternhaus hinter Büchern versteckt; später als Schriftstellerin, die in den bürgerlich dominierten Intellektuellenkreisen fremd bleibt – und sich wieder in die Bücher zurückzieht.

«Etwas von der Zeit retten, in der man nie wieder sein wird», so bündelt sie im letzten Satz das Programm von «Die Jahre». Ernaux kämpft gegen das Vergessen – gerade der Geschichten von Frauen und ArbeiterInnen. Als Chronistin von Pierre Bourdieus «symbolischer Gewalt» zeigt sie, wie sich die Ungleichheit in alle sozialen Beziehungen und in die Körper einritzt. Und sie betont, dass wohl in manchen Köpfen ungeschriebene Romane herumspukten.

Mit «Erinnerungen eines Mädchens» lieferte Ernaux letztes Jahr eine Tiefenbohrung nach: über den verstörenden Sommer 1958, der in der Gesamtschau von «Die Jahre» gerade mal eine knappe Seite einnimmt. Es geht um erste sexuelle Erlebnisse, nicht ganz fassbar mit Etiketten wie Entjungferung, Missbrauch, unglückliche erste Verliebtheit, Essstörungen. Einschneidend sind bei Ernaux das Nichtwissen, das Nichtvorbereitetsein auf das Sexuelle. Daran geknüpft ist aber auch die wilde Sehnsucht nach Ausbruch und das Dazugehörenwollen zu einer Gruppe – endlich ausserhalb des Elternhauses –, lange ohne zu merken, dass sie von den neuen «FreundInnen» verspottet und erniedrigt wird. Später kommt dann die Scham als ein alles verschlingendes Gefühl, das aber nicht primär sexuell grundiert ist. Ernaux schämt sich vor allem wegen ihrer Herkunft. Wie Eribon.

Fast gewaltsam von einer rein subjektiven Perspektive losreissen will sich Ernaux auch, wenn sie über ihren Vater schreibt, der als Knecht und Fabrikarbeiter begann, später einen kleinen Lebensmittelladen führte und nach einem Herzinfarkt früh verstarb. Sobald sie ihm als schreibende Tochter mit ihren privaten Erinnerungen zu nahe komme, verliere sich die soziale Tragweite seiner Geschichte, notiert sie in ihrem Vaterbuch «Der Platz», das im Original bereits 1983 erschien. Im Zuge der nun entfachten Ernaux-Begeisterung wurde es gerade neu übersetzt.

Blinde Flecken inklusive

Besonders berührend ist darin das Paradox der Sprache: Ernaux erzählt, wie sie sich den fremd gewordenen Vater, dem sie zu Lebzeiten nicht mehr viel zu sagen hatte, schreibend zurückholen kann. Zugleich zieht diese Sprache aber eine neue Trennwand zwischen sie und ihr Elternhaus. Einmal mehr beschreibt sich Ernaux als zerrissen zwischen zwei Identitäten, weil sie ein «Erbe ans Licht holen» will, das sie selbst «an der Schwelle zur gebildeten, bürgerlichen Welt zurücklassen musste». Und sie entdeckt die feinen Bruchlinien der Zerrissenheit auch bei ihrem Vater, der sich ebenfalls schon von seiner Herkunft als Taglöhner auf dem Bauernhof entfernt hatte.

Überhaupt spielen Väter in dieser neuen, soziologisch eingefärbten Literatur aus Frankreich eine entscheidende Rolle. In der Beziehung zu ihnen rumort und explodiert oft das ganze Gefühls- und Gedankengefüge der Söhne und Töchter. An den Vätern wird stellvertretend die schmerzhafte Tragweite von Klassengräben und Bildungsaufstieg verhandelt, blinde Flecken inklusive. Schon Eribons «Rückkehr nach Reims» war ein Vaterbuch: eine Spurensuche, aber auch eine Abrechnung mit seinem gerade verstorbenen gewalttätigen Vater, dessen Beerdigung der Sohn – unversöhnt – fernblieb.

Versöhnlicher gab sich jüngst der neue Shootingstar der französischen Literatur, der erst 26-jährige Édouard Louis, in seinem schmalen Band «Wer hat meinen Vater umgebracht». Das fehlende Fragezeichen im Titel ist Programm: Louis behandelt seinen Vater klar als Opfer der Klassenverhältnisse – und der Politiker, die diese zementierten. Er, der in seinem ersten Buch, «Das Ende von Eddy», noch hart ins Gericht ging mit dem Arbeitervater, der lange nicht zu seinem schwulen Sohn stehen konnte, schreibt ihm im neuen Buch einen fast schon zarten Brief. Dieser Brief ist zugleich eine wütende Anklage an das grobe Mackertum im Proletariat: an eine falsch verstandene Männlichkeit, die sich in der Verachtung von Frauen, Schwulen, der Schule und allem anderen vermeintlich Verzärtelten beweisen will – was natürlich nicht zuletzt den Männern selbst schadet.

Falsche Bescheidenheit

Könnte man «Das Ende von Eddy», «Wer hat meinen Vater umgebracht» und Louis’ Essay über die bürgerliche Verachtung der Gelbwesten wie Folien übereinanderlegen, erhielte man ungefähr die Beschreibungsdichte von Ernaux’ Prosa. Die Schlichtheit ihrer Sprache täuscht darüber hinweg, wie viel Arbeit in diesen konzentrierten Miniaturen steckt, die sie selbst einmal als «Unterliteratur» beschrieben hat. Interessanterweise ist es der junge Louis, der Ernaux’ falsche Bescheidenheit bezüglich ihrer, wie sie es auch nennt, «blanken Schreibweise» hinterfragt: Wer behaupte, diese Schreibweise sei unterkonstruiert und deshalb unliterarisch, würde wohl auch den abstrakt-expressionistischen Gemälden eines Mark Rothko unterstellen, sie seien nicht gleich exakt ausgearbeitet wie etwa der Naturalismus von Édouard Manet.

Gut also, wenn die verzögerte Ernaux-Rezeption im deutschen Sprachraum weitergeht. Als Nächstes sollte man ihr auf Deutsch vergriffenes Mutterbuch neu auflegen. Auch um der ganzen Arbeiterväterliteratur eine weibliche Genealogie gegenüberzustellen.

Die Bücher von Annie Ernaux («Die Jahre», «Erinnerung eines Mädchens», «Der Platz») und Didier Eribon («Rückkehr nach Reims», «Gesellschaft als Urteil») sind bei Suhrkamp erschienen, Édouard Louis’ «Wer hat meinen Vater umgebracht» und «Das Ende von Eddy» im Fischer-Verlag.