Materialmusik: Echt Plastik

Nr. 11 –

Das Elektronikduo Matmos und die Produzentin Sophie spielen mit synthetischem Material und Sound. Um Plastik, so scheint es, kommt die Popavantgarde nicht herum.

Machen plastische Sounds mit menschlichem Faktor: Drew Daniel und M. C. Schmidt von Matmos. Foto: Theo Anthony

Synthetisches Fett: Wir wissen ja nicht einmal, wie es aussieht, aber wie es wohl erst klingen mag? Immerhin der Einstieg tönt noch vertraut, die Billardkugeln, die sanft gegeneinanderstossen, erinnern an eine entspannte Atmosphäre in einer Bar.

Doch der hektische Beat kündigt sich bereits an, beginnt, die Geräusche der Kugeln in seine Struktur aufzusaugen, und füllt den Raum bald mit surreal knatternden Glitch-Sounds. Das im Hintergrund schwebende Horrorgeräusch erinnert an Stimmorgane, und auch das synthetisch schimmernde Blubbern und Schmatzen, das sich zwischen dem Beat hindurchwälzt, regt Kopfbilder an: Ist es das nun, das künstliche menschliche Fett?

Es provoziert die Vorstellungskraft, einen Song «Interior with Billiard Balls & Synthetic Fat» zu nennen und dann noch zu erklären, jedes einzelne seiner Elemente stamme ursprünglich aus einer dieser beiden Klangquellen. Aber bei Matmos, dem experimentell gesinnten Elektronikduo aus Baltimore, ist man das gewohnt. In ihrer Diskografie finden sich Alben, die ausschliesslich aus Sounds gemacht wurden, die bei chirurgischen Eingriffen entstehen oder die ein einziges Schwein von sich gab. Für ihr aktuelles Album, «Plastic Anniversary», lassen Matmos nun eine einzige Materialgruppe erklingen: Plastik.

Es hängt eine apokalyptische Grundstimmung über diesem Album, das unser ambivalentes Verhältnis zu diesem Material hörbar macht: Als allgegenwärtiger Werkstoff ist er uns bestens vertraut, in seiner stofflichen Erscheinung aber auch fremd – und als ökologische Hypothek sogar bedrohlich. Die Rückseite des Albumumschlags zeigt das Skelett eines Albatros und die vielen Plastikteile, die in seinem Magen gefunden wurden. Ein Dokument der «Plastisphere», wie der letzte Song heisst: einer Welt, deren Biosphäre mittlerweile bis in die Mikroebene hinein von winzigen Plastikpartikeln durchdrungen ist.

Die Palette der Klangobjekte, mit denen Matmos auf «Plastic Anniversary» arbeiten, reicht von Mülltonnen über Strohhalme bis zu einem Brustimplantat aus Silikon. Doch können wir uns nie sicher sein, welches davon wir gerade hören – die digitale Musikproduktion ermöglicht ja gerade, irgendetwas nach irgendetwas anderem klingen zu lassen. Nur schon von jenem Silikonimplantat ausgehend, schöpfen Matmos ein ganzes Spektrum an schrägen Sounds: Es klackert wie ein Schlagholz, brummt und zerfranst wie ein Basssynthesizer mit Sabotagefilter oder röhrt wie ein Elefant. So zerhackt dieser Tribal House klingt, so plastisch sind die Sounds, aus denen er gebaut ist – hier wird Plastik auch zur Metapher für endlose Formbarkeit.

Analog auf Plastik

Als Metapher für Pop ist Plastik allerdings meist abwertend gemeint: Plastikpop ist künstlich, kommerziell, oberflächlich; im Hintergrund lauert oft eine Vorstellung von analoger Haptik und authentischem Gefühl. Nun ist «Plastic Anniversary» keine Popplatte, die meisten Songs lehnen sich an eine Form von elektronischer Tanzmusik an. Doch diese Musik ist unverkennbar von Pop inspiriert, gerade dann, wenn sie am künstlichsten klingt. Nicht nur in diesen Momenten kommt dieses Album daher wie ein Denkstück über die Materialität von Musik.

Auf die ironische Spitze getrieben ist dies im Song «Breaking Bread». Der Titel verweist auf die in den siebziger Jahren populäre Softrockband Bread, doch das ist keine nostalgische Reminiszenz, und auch der elastisch hüpfende Dancehall-Beat erinnert kein bisschen an den gefühligen Sound dieser Band. Eher machen Matmos sich hier über die grassierende Retrokultur lustig – der Song besteht ausschliesslich aus Klängen, die beim Zerschlagen von Bread-Platten entstanden. Das erinnert daran, dass Plastik in Form von Schallplatten aus Polyvinylchlorid eben auch der Inbegriff des Analogen ist, der typische Träger von warmen, menschlichen Sounds.

Nicht nur das, trotz digitaler Modulation ist der menschliche Faktor tatsächlich tief in den Produktionsprozess von «Plastic Anniversary» eingeschrieben. Dass die Kunststoffobjekte von einer Trommelgruppe und dem impulsiven Schlagzeuger Greg Saunier von der Band Deerhoof zum Klingen gebracht wurden, macht die Rhythmen organisch, oft im Kontrast zum synthetischen Klang. Und der entfesselte Klangwitz und die pulsierenden Grooves setzen dem nahezu überbordenden Konzept ein intuitives Vergnügen entgegen.

Klinische Psychedelik

Matmos spielen mit digitalem und analogem Material, wobei das Analoge natürlich auch immer für die Vergangenheit, das Synthetische, das Plastik, für die Zukunft steht. Noch drastischer hörbar wird die futuristische Dimension synthetischer Klänge bei der schottischen Produzentin Sophie, die 2018 mit «Oil of Every Pearl’s Un-Insides» ein Meisterwerk der avantgardistischen Popmusik veröffentlicht hat. Einen Namen machte sich Sophie zunächst im Hintergrund, unter anderem mit raffinierten Produktionen für Charli XCX, Vince Staples oder Madonna. In ihrer eigenen Musik überdreht sie die synthetischen Sounds des Pop derart krass, dass sie ein unheimliches Eigenleben entwickeln.

Ausser ihrem Gesang kommt hier alles aus dem Computer. Theoretisch könne heute jede mögliche Klangtextur digital erzeugt werden, sagt Sophie in der Arte-Sendung «Tracks» – wieso sich also unnötig durch Samples oder Instrumente limitieren? Das klingt dann so wie in «Faceshopping», von der Form her ein Popsong, aber kaum als solcher hörbar. Spitze Beats wie Schläge auf Metall schneiden durch den Raum, der Bass vibriert wie ein abartiges Knurren, die Melodien winden sich wie unter grausamen Schmerzen. Die scharf getrennten Sounds morphen umher, sodass sie fast halluzinogene Wirklichkeit erlangen. Doch dieser klinischen Psychedelik ist jeder Hauch von hippiesker Sanftheit ausgetrieben.

Sophie nennt ihre Soundwelt «hyperreal», denn sie will Klänge erschaffen, die mit den uns bekannten zwar verwandt sind, deren Realität aber durch Überzeichnung sprengen. Ihr Beispiel: Wie klingt ein Klavier, das so gross ist wie ein Berg? Sophies fantastische Welten sind trotz der Härte der Sounds wunderschön, denn wenn man ihr dabei zuhört, wie sie ihre digitalen Klangobjekte erschafft und formt, hat das auch etwas Utopisches.

Schlüpfrig und dystopisch

Es ist kein Zufall, dass sich gerade queere KünstlerInnen wie Sophie und Matmos mit Künstlichkeit im Pop auseinandersetzen. Sophie sieht sich weder als Frau noch als Mann, sondern als «vaping», verdampfend. Drew Daniel und M. C. Schmidt von Matmos sind privat ein Paar, und in ihrem Werk geht es immer wieder um Gender. Ihr Album «Ultimate Care II» entstand mit Sounds ihrer eigenen Waschmaschine, eine Anspielung auf die gemeinsame Hausarbeit. Zum Song «Thermoplastic Riot Shield» von «Plastic Anniversary», der mit Sounds eines Polizeischilds gemacht ist, gibt es ein Video, in dem Männer lasziv tanzen und ein Schild vielsagend mit weisser Flüssigkeit bespritzt wird.

Und vielleicht ist sogar das Spiel mit den Billardbällen aus «Interior with Billiard Balls & Synthetic Fat» eine schlüpfrige Anspielung. Auf jeden Fall verweist der Song auf die Geschichte des Plastiks: Mitte des 19.  Jahrhunderts hat die Suche nach einem günstigeren Ersatz für das Elfenbein in Billardkugeln zur Entwicklung des Plastiks beigetragen – das künstliche Material des menschlichen Körpers stellt man sich als den letzten Schrei in der Plastikforschung vor. Wenn man dann an die Plastikpartikel in unseren Körpern denkt, wird der Soundtrack zu dieser Plastikgeschichte umso unheimlicher.

Matmos: Plastic Anniversary. Thrill Jockey. 2019

Sophie: Oil of Every Pearl’s Un-Insides. Future Classic / Transgressive. 2018