Zukunft der Türkei: Frühlingsgefühle am Bosporus

Nr. 14 –

Die Partei des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan hat bei der Kommunalwahl empfindlich an Macht eingebüsst. Das Ergebnis zeigt: An der Linkspartei HDP kommt man nicht so ohne weiteres vorbei.

«Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die Türkei», zeigte sich 1994 der neu gewählte Bürgermeister der Millionenmetropole überzeugt. Sein Name: Recep Tayyip Erdogan. Seit Sonntag hat dieser Ausspruch das Zeug, zur Parole der Opposition zu werden. Denn ausgerechnet in jener Stadt, in der der Aufstieg des heutigen Staatspräsidenten begann, musste Erdogan eine empfindliche Schlappe hinnehmen.

Zwar stand sein Name bei den Kommunalwahlen am Sonntag gar nicht auf dem Stimmzettel. Erdogan hatte den Urnengang jedoch als nationales Stimmungsbarometer inszeniert und war wahlkämpfend durch die Republik getourt. Die Niederlage seines Kandidaten Binali Yildirim in Istanbul ist also vor allem eine Niederlage für ihn selbst. «Der Kerl hat verloren», kommentierte am Wahlabend Ahmet Sik, der früher Reporter der Tageszeitung «Cumhuriyet» war und heute für die kurdisch-türkische Linkspartei HDP im Parlament sitzt. Da war das Ergebnis noch nicht fix, der äusserst knappe Sieg des CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu aber bereits absehbar.

Der ehemaligen Staats- und heutigen Oppositionspartei CHP gelang es indes nicht nur in Istanbul, Erdogans AKP zu schlagen. Auch in der Hauptstadt Ankara siegte sie erstmals seit langer Zeit. Für die CHP könnte das einen erheblichen Machtgewinn nach sich ziehen, symbolisch wie faktisch. Allein in Istanbul leben fünfzehn Millionen Menschen, ein knappes Fünftel der türkischen Bevölkerung. Ob Erdogan die neu gewählten Stadtregierungen akzeptiert, ist allerdings ganz und gar nicht ausgemacht. Es habe Unregelmässigkeiten gegeben, prangerte die AKP an. Man werde die Ergebnisse anfechten.

Übermächtige AKP

Vorerst scheint die AKP zwar noch etwas gelähmt. Doch früher oder später wird sie zum Gegenschlag ausholen. Vergessen gehen sollte nicht, dass die Partei weiter mit satter Mehrheit das Land regiert. Mit 44 Prozent wurde sie am Sonntag landesweit erneut stärkste Kraft, die Mehrheit der Abgeordneten im weitgehend entmachteten Parlament stellt sie ohnehin – und natürlich den Präsidenten. Zu frohlocken, die Zeit Erdogans gehe nun zu Ende, ist daher voreilig. Nach dem jahrelangen Umbau des Landes konzentriert er eine ungeheure Macht in seinen Händen.

Im Moment triumphiert dennoch die Opposition. Die Siege in Ankara und vor allem in Istanbul sind eine Überraschung. Angesichts der Übermacht der AKP, die nahezu alle Medien unter ihre Kontrolle gebracht und einen verleumderischen Wahlkampf gegen die Opposition geführt hat, war die Sorge berechtigt, dass sich die Enttäuschungen vergangener Wahlen wiederholen würden. Sieben Urnengänge fanden in der Türkei seit 2014 statt. Sechs Mal ging am Ende die AKP als Siegerin vom Platz. Und als sie einmal, bei den Juniwahlen 2015, mit dem Einzug der HDP ins Parlament und dem Verlust der absoluten Mehrheit wirklich etwas einstecken musste, wurde erst ein Krieg begonnen, dann wurden die Wahlen wiederholt.

Zukunftsmodell progressiver Politik

Diesmal waren vor allem zwei Dinge anders: Die türkische Bevölkerung spürt erstens die Folgen der Wirtschafts- und Währungskrise inzwischen deutlich. Es war schliesslich das bereits im Parteinamen enthaltene Versprechen des Aufschwungs, das die AKP gegenüber ihrer Basis einst machte und das sie auch lange zu halten schien. Zweitens hat die HDP in den westtürkischen Grossstädten zugunsten der gemeinsamen KandidatInnen von CHP und rechtsnationalistischer Iyi-Partei auf eigene Kandidaturen verzichtet, um so – wie ihr inhaftierter früherer Vorsitzender Selahattin Demirtas es ausdrückte – «das System ins Wanken zu bringen». Ohne die Millionen kurdischen Stimmen der HDP-AnhängerInnen hätte die CHP vor allem in Istanbul nie gewinnen können.

Doch auch hier besteht kein Grund für allzu grossen Optimismus: Die unbeschwerte Rede von der Opposition verschleiert nämlich, dass sich dort politische Strömungen versammeln, die nicht mehr eint als ihre Ablehnung der AKP. Ganz sicher wird die HDP niemals Hand in Hand mit dem rechten, antikurdischen Flügel der CHP oder gar der Iyi-Partei an einer neuen Türkei bauen können. Die Kooperation bei den Wahlen war pragmatisch und allein dem Wunsch geschuldet, Erdogan in die Schranken zu weisen.

An der HDP und ihrem Ansatz eines integrativen, multiethnischen Modells linker Politik kommt man derweil nicht so ohne weiteres vorbei. Das wurde am Sonntag erneut deutlich, als die Partei nicht nur der CHP zu Siegen in den Grossstädten verhalf, sondern auch im Südosten des Landes einen Grossteil der 2016 unter Zwangsverwaltung gestellten Rathäuser zurückerobern konnte. Trotz der seit Jahren anhaltenden Repression bleibt die HDP das Herzstück alternativer, demokratischer Politik in der Türkei und der Schlüssel zur Lösung der kurdischen Frage.

Seit Sonntag weiss sicher auch die CHP, was sie der HDP zu verdanken hat. Um also bei Erdogans Bonmot zu bleiben, demzufolge die Türkei gewinne, wer Istanbul gewinne: Ohne die HDP und die Menschen, die sie repräsentiert, wird das Land nicht zu gewinnen sein. Dass dies mit Nachdruck unterstrichen wurde, ist das vielleicht wichtigste Ergebnis dieser Wahlen.