Londons Jugendbanden: Auf dem falschen Trottoir

Nr. 18 –

Die tödliche Rivalität zwischen Jugendgangs aus verschiedenen Londoner Stadtteilen hat ungeahnte Ausmasse angenommen. Oft genügt die falsche Postleitzahl, um erstochen oder abgeknallt zu werden.

  • Langsam, düster, mit Tendenz zu gewalttätigem Nihilismus: Der Musikstil Drill dient im Studiobus «United Borders» für einmal der Gewaltprävention.
  • Justin Finlayson (im beigen Mantel) mit Mitarbeitern seines «United Borders»-Musikbusses.
  • «Wenn Jugendliche nichts zu tun haben, nehmen sie Musik als Anleitung»: DJ Bass4v moderiert eine Radioshow.
  • Church Road im Westen Londons: Kids aus dem benachbarten Stonebridge wagen sich besser nicht hierher.
  • Läden an der Church Road: Ein Mofa fuhr vorbei, der Beifahrer eröffnete das Feuer mit einer Schrotflinte.

Echte GrossstädterInnen sind lokalpatriotisch. Eine Londonerin wohnt nicht in London, sondern in Peckham, Wood Green oder Hoxton, und wer vom Stadtgebiet seiner Kindheit in den benachbarten Bezirk zieht, fühlt sich im Exil. Für manche junge LondonerInnen hat die überhöhte lokale Verankerung jedoch eine andere Bedeutung. Zuweilen bestimmt sie über Leben und Tod.

Es ist ein nebliger Tag Ende November, um 16 Uhr dunkelt es bereits. In Harlesden, einem Stadtteil im Westen Londons, sind die SchülerInnen auf dem Weg nach Hause, sie hasten die Trottoirs entlang oder warten, Kopfhörer eingestöpselt, an der Bushaltestelle. Ein Junge mit Kapuzenpullover geht über die Church Road, vor sich balanciert er ein Fahrrad ohne Vorderreifen. Angesprochen auf einen Vorfall, der sich hier letzte Woche ereignete, wendet er sich schnell ab und meint nur: «Ah, du bist wohl ein undy.» – «Nein, ich bin Reporter. Ein was soll ich sein?» – «Ein undy, undercover cop.» Der schwarze Teenager hat seine Kapuze so fest zugeschnürt, dass nur ein kleiner Ausschnitt seines Gesichts zu sehen ist. Nach einem kurzen Wortwechsel löst sich sein Misstrauen, er weist auf die Läden auf der anderen Seite der Hauptstrasse.

Der weisse Verputz neben dem Quartierladen ist von unzähligen kleinen Löchern übersät, es muss eine Schrotflinte gewesen sein. Im Shop nebenan sitzt ein bärtiger Mann hinter der Fleischauslage; auch er vergewissert sich zunächst, dass er nicht von der Polizei befragt wird, dann zückt er sein Telefon und spielt einen Clip ab, den die Überwachungskamera aufgezeichnet hatte: Ein paar Leute stehen vor dem Eingang, als sich langsam ein Moped nähert, dessen Beifahrer einen länglichen Gegenstand hält; plötzlich ist ein Lichtblitz zu sehen, und beim Bankomaten sinkt jemand zu Boden. «Morgen bin ich hier weg», sagt der Mann mit starkem arabischem Akzent. Sein Onkel habe das Geschäft verkauft – zu gefährlich.

«Wo sind wir jetzt, family?»

Wenige Wochen vor dem Vorfall auf der Church Road waren zwei junge Männer im gleichen Viertel mit Messerstichen ins Spital eingeliefert worden, einige Tage darauf erlitt ein Zwanzigjähriger in einer nahen Strasse eine Stichwunde im Oberschenkel. Die Angst, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, ist zu einem Teil des Alltags geworden. Man spürt es an der nervösen Art, wie sich Teenager auf dem Trottoir umdrehen, wenn sie hinter sich jemanden hören. Oder an den Blicken der jungen Männer vor dem karibischen Take-away, die jeden Passanten argwöhnisch mustern.

2018 wurden in London laut Polizeistatistik 135 Menschen umgebracht, so viele wie zuletzt vor zehn Jahren. Besonders erschreckend ist, dass sich unter den Opfern so viele Teenager finden, die meisten Angehörige ethnischer Minderheiten. Aus diesem Grund sprechen manche abschätzig von «black-on-black crime». Passender ist der Ausdruck «postcode violence»: die falsche Postleitzahl als Grund, weshalb jemand erstochen oder abgeknallt wird.

Falsch heisst, dass jemand aus einem Viertel kommt, das in einer Revierstreitigkeit mit einem anderen steht. Der Church Road Estate etwa gilt als Feind des Stonebridge Estate auf der anderen Seite der Eisenbahnschiene. In beiden Vierteln treiben sich Gangs herum. So ist es seit vielen Jahren, ohne dass jemand die genaue Ursache nennen kann. Auf Youtube ist ein Video aus dem Jahr 2010 zu sehen, in dem Jungs aus Stonebridge filmen, wie sie zu Fuss und mit Fahrrädern in Church Road unterwegs sind. «Wo sind wir jetzt, family?» – «Church Road, bruv.» – «Wie heisst diese Strasse?» – «Tynsdale Road, man.» – «Die würden nie so weit nach ‘bridge reinkommen. Pussys.» Der Spaziergang durchs Nachbarviertel als Mutprobe.

Die Tynsdale Road ist unscheinbar, Reihenhäuschen aus Backstein. Ein Mann mit goldener Kette und Baseballmütze steigt aus seinem Auto. Lennox, vierzig Jahre alt, ist hier aufgewachsen. Wie rund ein Drittel der BewohnerInnen von Harlesden ist er afrokaribischer Herkunft. «Die Postcode-Rivalität ist einfach bescheuert», sagt er. Auf die Frage nach dem Warum erwidert er: «Du fragst mich?! Ich habe keine Ahnung.» Seine Kinder lasse er auf keinen Fall nach Stonebridge, obwohl es nur drei Gehminuten entfernt liegt. Aber auch diese Strassen sind nicht sicher. «Oft sag ich mir: Mann, hier rumzustehen, ist eigentlich ganz schön riskant.»

Beim Rumstehen starb sein Kumpel James Owusu-Agyekum, der auf der anderen Strassenseite wohnte: Am 2.  November 2016 plauderte er im Hauseingang mit seinem Nachbarn, dann fuhren zwei Jungs auf Fahrrädern vor, eröffneten das Feuer und verschwanden im Stonebridge Estate. Fünf Kugeln trafen Owusu, er starb wenige Minuten später – ein junger Mann aus einer frommen Familie, bekannt als «sanfter Riese», der sich nie etwas hatte zuschulden kommen lassen und sich um seine kranke Mutter kümmerte.

Justin Finlayson war fassungslos. «Wir alle kannten diesen Jungen. He was a good kid. Wenn selbst er getötet wird, wer ist dann noch sicher?» Finlayson ist ein grosser Mann, manche nennen ihn «Big Justin». Seine kurzen Rastalocken stehen in alle Richtungen, oft ist er im Trainingsanzug zu sehen, im Kapuzenpulli oder in zwei T-Shirts, eins mit langen Ärmeln, darüber eins mit kurzen. So sitzt er an einem Nachmittag im November in einer Bar im Fernsehzentrum der BBC im Stadtteil White City. Einige Stunden zuvor war er zu Gast in einer Talkshow, in der die Jugendgewalt diskutiert wurde. Finlayson hat einiges zur Debatte beizusteuern. Er wuchs in Harlesden auf und kennt die Probleme des Quartiers, vor allem aber ist er einer, der nicht nur Rat gibt, sondern Hand anlegt. Owusu-Agyekums Tod gab den Anstoss.

Finlayson arbeitete damals als Busfahrer, und als er durch die Londoner Strassen kurvte, hatte er eine Idee: Mit seinem eigenen Geld erstand er von seinem Chef einen gebrauchten Doppeldeckerbus. Mit Unterstützung der Lokalbehörde sowie privater Sponsoren baute er den oberen Stock aus. Er installierte eine Mikrofonkabine, ein Mischpult, USB-Anschlüsse: ein mobiles Aufnahmestudio. So fuhr Finlayson in Harlesden vor.

Drogen, Messer und Pistolen

Wer Zugang zu Teenagern aus Problemquartieren sucht, hat mit Musik die besten Chancen. «Wenn ich die Jungs zu ihrem Leben befrage, verstummen sie», sagt Finlayson. «Aber wenn sie Lyrics schreiben, beginnen sie sich auszudrücken.» In seinem Bus zeigte er den Kids – alles Gangmitglieder –, wie man Songs produziert. «Ich begann, ihnen Fragen zu stellen, zum Beispiel: ‹Du schreibst hier, dass du fünf Leute abgestochen hast. Wieso?› Ich merkte, dass sie sich noch nie auf diese Weise rechtfertigen mussten. Denn wenn sie mit ihren Freunden zu rappen beginnen, ist es selbstverständlich, dass sie so daherreden.»

Die Musik heisst Drill. Ursprünglich stammt das Genre aus Chicago, aber die Londoner Kids haben daraus ihren eigenen Stil geformt. Drill hat gewisse Ähnlichkeiten mit Grime, der innovativsten Musikrichtung, die in den letzten zwanzig Jahren in den Londoner Gemeindebauten geprägt wurde – und manche Künstler von Weltruf hervorgebracht hat, etwa Dizzee Rascal oder Stormzy. Beim Drill wird langsamer gerappt, vor allem aber ist der Inhalt düsterer. Auf Videos, die über soziale Medien ausgetauscht werden, sind Gruppen junger Männer zu sehen, manche vermummt, sie machen sich über die Gangs des verfeindeten Quartiers lustig, sprechen von Drogen, Messern und Pistolen.

Die verbreitete These, dass brutale Musik unweigerlich zu Brutalität im wirklichen Leben führe, ist überaus fragwürdig, beim Drill aber scheint sie eine gewisse Berechtigung zu haben. Es gibt den Fall von M-Trap, mit bürgerlichem Namen Junior Simpson: ein Drill-Künstler aus Südlondon, der von Messerattacken rappte, bevor er am 8.  August 2017 selbst zum Messermörder wurde. Auch hier war laut Polizei «postcode rivalry» ausschlaggebend. Im Sommer 2018 wies die Metropolitan Police Youtube an, mehrere Dutzend Videos zu löschen, weil sie zum Anstieg der Jugendgewalt beitrügen.

Dan Hancox, Autor eines neuen Buchs über Grime, sagte gegenüber dem «Guardian», dass man in manchen Fällen eine klare Verbindung zwischen den musikalischen Wortgefechten und den realen Konflikten sehen könne. In seinem Buch schreibt er vom Hyperlokalismus und der erstickenden Klaustrophobie des Drill. Zwar ist auch im Grime eine starke lokale Verankerung spürbar – sein Ursprung lässt sich auf drei Hochhäuser in Ostlondon zurückführen. Aber im gewalttätigen Nihilismus, der im Drill zum Ausdruck komme, werde die Identifikation mit dem eigenen Quartier auf die nächste Ebene gehoben.

Tottenham, Postleitzahl N17

Samstagnachmittag bei der Station Camden Road, Nordlondon. In einem kleinen hippen Kleiderladen soll heute President T sein neues Album vorstellen, «There’s Only One». Prez, wie er sich nennt, ist ein Veteran der Szene. In den frühen nuller Jahren gehörte er zur Meridian Crew, einer Grime-Gruppe, aus der manche der bekanntesten Musiker hervorgingen: JME, Skepta, Meridian Dan. Gegen Ende des Jahrzehnts verschwand Prez von der Bildfläche, kurze Zeit verbrachte er im Gefängnis. Seit einigen Jahren macht er wieder Musik und hat einige Grime-Alben produziert.

Die neuste Platte ist anders. Hier macht er Drill. Ein trostloser Ton zieht sich durch das Album, President T rappt in kurzen Zeilen und dickem Londoner Slang über das Leben in seinem Quartier: Tottenham, Postleitzahl N17. Im Track «Drivers» werden Kugeln auf Oberschenkel geschossen, es wird mit Pistolen in der Hand durch Gassen geschlichen, es wird deklariert: «T war schon hier, als du noch in den Eiern deines Vaters warst.» Alles vor der Kulisse einer gespenstischen Hintergrundmelodie, die dem Soundtrack des Horrorfilms «28 Days Later» entlehnt ist; sie begleitet zu Beginn des Films die Bilder eines verwüsteten, menschenleeren London.

Mit einigen Stunden Verspätung taucht der Musiker an der Camden Road auf. Er füllt sich einen Plastikbecher mit Apfelbrandy und Preiselbeersaft. Seine Songs seien ein Abbild des Lebens in den armen Stadtteilen Londons, beginnt Prez zu erzählen: «Ich rappe über Dinge, die jemandem aus schwierigen Verhältnissen zustossen können: dass man zum Beispiel in Sachen reingezogen wird, die man lieber meiden würde.» Auf die Gewalt in den Texten angesprochen, sagt er: «Ein Drill- oder Grime-Song, der Gewalt enthält, kann tatsächlich einen Effekt auf die Leute haben. Aber das ist nicht allein für die Gewalt verantwortlich, die wir derzeit in Grossbritannien sehen.»

Kurz darauf steht Prez mit dem Mikrofon neben dem Mischpult und gibt einige Tracks zum Besten. Um ihn herum Kollegen und Fans, die im Rhythmus mit dem Kopf nicken, mit ihren Handys filmen und die Refrains mitsprechen. Das Mikro wird herumgereicht, ein paar andere MCs präsentieren ihre neusten Lyrics. Breit grinsend lauscht Prez einem jüngeren Rapper, der seine Sätze so schnell von sich gibt – spitting, spucken, nennt sich das –, dass ihnen kaum zu folgen ist. Von Messerstechereien und Streitigkeiten über Postleitzahlen fühlt man sich weit weg. Hier wird ganz einfach Musik gemacht.

In den Anfängen des Grime waren die Piratenradios praktisch die einzigen Kanäle, über die man die Musik unter die Leute bringen konnte. Sie bildeten einen zentralen Bestandteil jener «informellen Stadt», die es den Kids aus der Arbeiterklasse erlaubte, sich auszudrücken, ohne zuvor von der etablierten Kultur für akzeptabel erklärt worden zu sein, schreibt Dan Hancox. Stets mussten die Musiker und Produzenten der Polizei einige Schritte voraus sein, sie bauten die Sender in besetzten Häusern oder auf den Dächern der Tower Blocks auf, wo sie schnell wieder abgebaut werden konnten. Doch nach und nach gewannen die Behörden die Oberhand, heute gibt es kaum mehr Sender, die jenseits des Mainstream Grime und Drill spielen. Um eine der wenigen Radiostationen zu besuchen, die diese Musik ernst nehmen, muss man zurück nach Harlesden.

Besuch im Drill-Studio

In einem Backsteingebäude an der Hauptkreuzung ist um 20 Uhr schon längst Feierabend, nur im zweiten Stock brennt noch Licht. Das Studio von The Beat 106.3 FM ist ein Nebeneinander von provisorisch eingerichteten Büroräumen. Ein Mann und eine Frau mittleren Alters gucken lustlos auf ihre Computer. «All right, mate?», sagt er, als ich vorbeigehe. «All right, love?», sagt sie. Im Livestudio am Ende des Gangs hingegen: grosse Party. Ein DJ hüpft zwischen den Schaltpulten und tänzelt zu den Afrohousebeats, die so laut sind, dass der Tisch im benachbarten Studio vibriert. Hier sitzt Bass4v, schaut seinem Kollegen durch die schalldichte Scheibe zu und lächelt: «Schau dir die Energie dieses Kerls an. Der ist verrückt.»

DJ Bass4v, kurz Bass, heisst eigentlich Ayotunde, er präsentiert eine wöchentliche Show, in der er Grime und Drill spielt. Auf seinen Händen sind verblasste Tattoos zu sehen. «Die Leute sagen, für einen 29-Jährigen habe ich schon viele Leben hinter mir», sagt Bass. Er hat Velos repariert, Handys verkauft, in Warenhäusern von Amazon geschuftet, ist als Lastwagenchauffeur durchs Land gefahren und hat für einen Londoner Club American Football gespielt. Seine Jugend im Stadtteil Kilburn wurde von unzähligen gewaltsamen Konfrontationen begleitet. Einmal wurde auf ihn geschossen. Auch er verbrachte eine Zeit lang hinter Gittern. Dann studierte er Maschinenbau, heute arbeitet er für ein Telekommunikationsunternehmen und hat eine Familie.

Immer umgab ihn die Musik. Er war erfolgreich als DJ und Produzent, verdiente aber nie genug, um daraus einen Beruf zu machen. Einmal, als er «Dummheiten gemacht» habe, hätten ihm die Behörden eine Chance gegeben: Ein Jugendclub in Kilburn engagierte ihn als eine Art Musiktherapeut für Problemkinder. Weil Bass auf der Strasse als guter Produzent bekannt war, wollten Kids aus verschiedenen Vierteln mit ihm arbeiten. Angeberei und Gewalt waren auch hier die bestimmenden Themen. Wie President T betont Bass jedoch, dass Musik nicht die Ursache der Gewalt sei, sondern ein Abbild der Realität: «In diesen Stadtteilen gab es Schiessereien und Messerattacken, lange bevor es Drill gab. Aber wenn junge Leute nichts zu tun haben und rumhängen, nehmen sie Musik als Bedienungsanleitung.»

Die Gewalt der Sozialkürzungen

Er erzählt von einem Schulabbrecher, der zu ihm kam und eigene Drill-Songs schreiben wollte: «Er versuchte, zum Drogenhändler zu werden, aber er taugte überhaupt nicht dazu! Er wusste nicht, was er mit seinem Leben anfangen sollte, und deshalb bezog er seine Instruktionen wortwörtlich vom Drill.»

Aus diesem Grund seien Jugendclubs eine zentrale Institution, um die Gewalt in den Armenvierteln einzudämmen: «Als ich dort arbeitete, waren die Leute nicht gewalttätig, und sie waren bereit, ihre Postleitzahl zugunsten der Musik zu vergessen», sagt Bass. «Als es jedoch den Club nicht mehr gab, verband sie nichts mehr.» Eine Erhebung des Royal London Hospital kam zum Schluss, dass die meisten Messerattacken gegen Kinder unter sechzehn Jahren in den zwei Stunden nach Schulschluss stattfinden – genau dann also, wenn der Andrang in den Jugendzentren am grössten ist. Ironischerweise wurde der Club in Kilburn geschlossen, weil es zu Streitigkeiten zwischen Teenagern aus verfeindeten Quartieren gekommen war: Bass’ Nachfolger war sich der geografischen Komplexitäten Londons nicht bewusst, und so gerieten sich die Leute in die Haare.

Die meisten Projekte für Teenager fielen jedoch einem anderen Umstand zum Opfer: Sparmassnahmen. Seit 2011 haben die Londoner Gemeinden ihr Budget für Jugendarbeit um 46  Prozent reduziert, annähernd die Hälfte der Jugendclubs wurden geschlossen. Zudem strich die konservative Regierung im Zuge der Austerität den Zuschuss für SchülerInnen aus armen Haushalten – mit der Folge, dass finanziell Benachteiligte, darunter überproportional viele afrokaribischer Herkunft, Schwierigkeiten haben, ihre Ausbildung abzuschliessen. Deshalb ist der Begriff «black-on-black crime» so krumm: Es geht nicht um die Hautfarbe der Täter und Opfer, sondern um strukturelle Ungleichheit.

Justin Finlayson nennt es «cuts crime»: die Gewalt der Sozialkürzungen. «Wenn wir von Messerstechereien sprechen, müssen wir auch von Spargewalt sprechen.» Die Sparpolitik hat das soziale Netz zerfressen, das Kindern aus schwierigen Verhältnissen Halt gab. «Zunächst fliegen sie von der Schule – das ist der erste Schritt auf dem Weg zum Gangmitglied», sagt Finlayson. «Dann tun sie sich mit anderen Schulabbrechern zusammen. Weil sie von niemandem unterstützt werden, formulieren sie ihre eigenen Ideen – es fehlt ihnen die nötige Ausbildung für einen Job, und sie werden zu Kleinkriminellen.» Die Jugendbande ersetzt die Familie, und das Revier der Gang wird zur stolzen Heimat – die es gegen Aussenseiter zu verteidigen gilt.

Genau wie Bass hat Justin Finlayson selbst erlebt, wie die Musik Leute zusammenbringen kann, über die Reviergrenzen hinweg. Als er sein Busprojekt begann – er nannte es «United Borders» –, überquerte er eine Woche lang jeden Tag die Trennlinie zwischen den verfeindeten Stadtteilen: Morgens stand sein Bus in Stonebridge, wo er mit den Jungs Tracks produzierte, nachmittags fuhr er nach Church Road, wo die Teenager zu den Beats aus Stonebridge rappten. «Am Freitag eröffnete ich den Kids, dass sie mit der anderen Seite zusammengearbeitet hatten. Sie konnten es nicht glauben. Und dann sagten sie: ‹Wir kommen rüber.›» Zusammen mit Finlayson fuhren fünf Gangmitglieder aus Church Road erstmals in ihrem Leben über die Grenze ins Nachbarviertel.

Dann wurde Big Justins eigener Sohn Opfer einer Messerattacke. Am 2.  Januar 2018 gegen 21  Uhr trat der damals zwanzigjährige Rico mit seinem Cousin aus der U-Bahn-Station Rayners Lane im Nordwesten Londons. «Ich bemerkte, dass uns ein paar Leute folgten», erzählt Rico Finlayson, der kleiner ist als sein Vater, kurz geschorenes Haar und einen Kinnriemenbart trägt. «Wir sahen, dass sie Masken und Messer trugen, und rannten davon.» Während der Flucht wurde er von seinem Cousin getrennt, plötzlich war er von seinen Verfolgern umringt. «Ich versuchte, ihnen zu erklären, dass ich nicht aus diesem Quartier stamme und keine Ahnung hätte, weshalb sie es auf mich abgesehen hätten. Einer nahm seine Maske ab und sagte, dass er mich tatsächlich nicht kenne. Aber die anderen begannen dennoch auf mich einzustechen.» Er rief nach Hilfe, worauf seine Angreifer von ihm abliessen und davonrannten. Schwer verletzt kroch er zur nächsten Haustür – der Zufall wollte es, dass dort eine Schulfreundin wohnte. «Ihre Familie deckte die Stichwunden mit Handtüchern ab, um die Blutungen zu stoppen, und rief die Ambulanz.» Im Spital verlor er das Bewusstsein.

Am ganzen Körper trägt Rico Finlayson tiefe Narben. Sein Fall verweist auf einen besonders tragischen Aspekt der Londoner Jugendgewalt: Viele der Opfer sind völlig unbeteiligt an Revierkämpfen. In Ricos Fall war es einfach Pech: «Rayners Lane, das Quartier, in dem wir angegriffen wurden, hatte grosse Probleme mit einem anderen, wo zwei Leute getötet worden waren. So kamen sie nach Rayners Lane, und jeder, der ungefähr in meinem Alter war, wurde zur Zielscheibe.» In anderen Fällen spiele Naivität mit, sagt DJ Bass: «Viele dieser Leute stammen nicht aus der Szene. Sie sehen die Alarmzeichen nicht.» Oft genügt es, dass jemand in einem Drill-Video als Statist auftritt: «Sie sagen nichts in den Videos, sind einfach mit dabei, lächelnd, wie um zu sagen: ‹Ich bin hier unter meinen Freunden›», sagt Bass. «Sie denken, die Verunglimpfung des Nachbarquartiers sei blosser Spass. Nein: Es ist todernst. Weil sie nie Probleme hatten mit irgendwem, gehen sie in den Quartierladen im Nachbarviertel. Und in der nächsten Minute sind sie tot.»

Umstrittenes Urteil

Rico Finlayson lag sechs Wochen im Spital. Bald danach folgte der nächste Schock für seinen Vater. Sein Bus erlitt ausserhalb von London eine Panne, und er parkte ihn in einem kleinen Dorf. In der Nacht wurde der Bus abgefackelt. Auf einem Pressebild ist Finlayson zu sehen, wie er vor dem geschwärzten Gerippe seines Busses steht.

Einen Monat später gewann er einen Preis für Jugendarbeit. «An der Preisverleihung berichtete ich vom abgebrannten Bus. Ein Manager eines Hedgefonds sass im Publikum und wollte wissen, wie viel Geld ich brauche.» Der Manager gab ihm die Hälfte der benötigten 8000 Pfund, durch Crowdfunding brachte Finlayson den Rest zusammen. Am 28.  November fährt der neue Bus in Harlesden vor: elegant schwarz gestrichen, mit der Aufschrift «United Borders» in grossen weissen Lettern. Seither tourt Big Justin wieder durch die Londoner Problemviertel. Er und seine Mitarbeiter bieten auch Mentoring, Kickboxing und Yoga an. Aber am wichtigsten bleibt die Musik.

Ende Januar 2019 wurden die zwei Drill-Rapper Skengdo und AM, beide aus dem Stadtteil Brixton, zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt. Sie hatten an einem Konzert das Lied «Attempted 1.0» (das Grime-Experte Hancox für einen der besten Rap-Tracks des Jahres hält) zum Besten gegeben, obwohl es ihnen die Behörden verboten hatten. Die Lyrics beschreiben vergangene bewaffnete Konflikte mit rivalisierenden Crews. Die Londoner Polizei reagierte, indem sie 410, die Gruppe, zu der die Rapper gehören, zur Gang deklarierte und mit einem Verbot belegte, das verfeindete Stadtgebiet – Postleitzahl SE11 – zu betreten und Lyrics mit Ganggewalt zu produzieren.

Das Urteil wurde von der Musikszene und von BürgerrechtlerInnen heftig kritisiert: Es fördere die vereinfachte Sichtweise, laut der Musik allein für die Gewalt verantwortlich sei, und lenke von den sozialen Ursachen ab. Laut der Kampagne Index on Censorship stellt der Entscheid einen Präzedenzfall dar: Noch nie zuvor wurde in Grossbritannien jemand mit einer Gefängnisstrafe belegt, weil er ein Lied gesungen hatte.