Theaterrevolution: Kampfansage an den Klassiker

Nr. 18 –

Im Gymnasium und Germanistikseminar ist Kleists «Die Verlobung in St. Domingo» beliebter Lesestoff. Ein Theaterstück klopft die Novelle nun gnadenlos auf ihre Hohlstellen ab.

Wenn sich die Texte überlagern, werden sie unleserlich: Omnipräsente Schwarzweissmetaphorik in der Kleist-Inszenierung des Schauspielhauses Zürich. Foto: Tanja Dorendorf, T+T Fotografie

Ist dieses Stück Literatur noch zu retten? Wer Heinrich von Kleists «Die Verlobung in St.  Domingo» ohne blinde Klassikerverehrung liest, kommt aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Eigentlich war Kleist ja seiner Zeit in vielem voraus. In seinen Texten offenbart sich eine grosse Sensibilität für kämpferische AussenseiterInnen wie den Gerechtigkeitsfanatiker Michael Kohlhaas oder die Kriegerin Penthesilea in deren Widerstreit gegen die herrschende Ordnung.

Ganz anders die Novelle «Die Verlobung in St. Domingo», deren Handlungsschauplatz die epochale Revolution von Haiti um 1800 ist. Brisanterweise schlägt Kleist sich auf die Seite der Weissen. Den existenziellen Freiheitskampf der schwarzen SklavInnen denunziert er grob als «unmenschliche Rachsucht». Im zweiten Teil seiner Novelle erstickt er dann die politische Sprengkraft dieser Revolution mit einer hanebüchenen Liebesgeschichte. Man könnte auch sagen: Angesichts der weltgeschichtlichen Tragweite seines Stoffs scheitert der blaublütige deutsche Schriftsteller kläglich und flüchtet sich in eine provinzielle Sentimentalität, in einen Abklatsch des Liebestodmotivs von «Romeo und Julia».

Staubtrockenes Kaffeekränzchen

Wer diese Novelle von 1811 in eine glaubwürdige zeitgenössische Theaterfassung übersetzen will, hat also einiges zu tun. «‹Die Verlobung in St. Domingo – ein Widerspruch› von Necati Öziri gegen Heinrich von Kleist» nennt sich die Stückfassung, die der Regisseur Sebastian Nübling auf die Bühne bringt – als Koproduktion des Zürcher Schauspielhauses und des Berliner Maxim-Gorki-Theaters. Auf dem Programmheft prangt eine als Ananas getarnte Handgranate, und auch der sperrige Titel macht sofort klar: Dieser Abend ist eine Kampfansage. Der dreissigjährige Dramaturg und Autor Necati Öziri knöpft sich nicht nur Kleists Novelle vor, sondern auch die deutschsprachigen Stadttheater, wo immer noch viel zu selten SchauspielerInnen of Color auf der Bühne stehen. Und auch wir als Publikum werden in die Verantwortung genommen.

Kleists Plot bleibt in Öziris neuer Textfassung nur in Bruchstücken erhalten: Der Schweizer Adlige Gustav von der Ried klopft in den Wirren der haitianischen Revolution eines Nachts an eine Haustür. Dort wird er von zwei Frauen empfangen, die ihn routiniert umgarnen sollen, damit er mit seiner Entourage am kommenden Tag von der revolutionären Armee überwältigt werden kann. Doch dann verliebt sich die von Kleist als «Mestizin» bezeichnete Toni in den Fremden, und die Revolution wird zum Kammerspiel einer todgeweihten Liebe.

Die Bühnenbildnerin Muriel Gerstner hat eine adäquat verloren wirkende, kleine weisse Guckkastenbühne in den Raum bauen lassen – flankiert von zwei DJ-Pulten. In diesem kleinen Theater im Theater verdichtet sich die Handlung immer wieder zu einem stummen Scherenschnitt aus schwarzen Schattensilhouetten. Überhaupt ist die Schwarzweissmetaphorik an diesem Abend omnipräsent – mit immer neuen Schattierungen.

In einer Schlüsselszene wird etwa literweise weisser Zucker in schwarze Kaffeetassen gegossen, bis die ProtagonistInnen am klebrigsüssen Kristallpulver fast ersticken. Der Zuckerüberschuss in diesem staubtrockenen Kaffeekränzchen verweist nicht zuletzt auf die unerträglich kitschige Liebesgeschichte, mit der Kleist uns einlullt. «Wir sind Zucker», skandiert wiederum der Revolutionsführer. In einem eindringlichen Monolog beschreibt er sich und die anderen SklavInnen als Energiespeicher, die tagein, tagaus durch ein Meer aus messerscharfen Zuckerrohrblättern hetzen.

Sicher nicht geläutert

Zwischen Licht und Schatten pendelt auch die Aufklärung. Öziri misst die Revolution der SklavInnen auf der Zuckerinsel an der bürgerlichen Revolution im Zentrum von Paris, die ja eben kein Umsturz von ganz unten war. Auch die Egalité-Rufe der Schwarzen haben die Pariser Revolutionäre geflissentlich ausgeblendet, genauso wie die Gleichberechtigungsforderungen der Frauen.

Im Halbdunkel des Bühnenrands schreibt eine Figur ein weisses Blatt Papier mit schwarzer Tinte voll. Mit der Zeit überlagern sich verschiedene Textschichten und werden so unlesbar. Und das gilt leider auch für einige Gedankenverästelungen dieser auf der Textebene oft allzu umständlichen und ausufernden Inszenierung.

Geglückt ist hingegen, wie Kleists Text auf einzelne Worte abgeklopft wird. Ist eine Revolution wirklich ein Mord? Die eingefügten Erweiterungen und Widersprüche überwältigen den Originaltext der Novelle regelrecht. Was dabei herauskommt, ist eine neue Sprache, jedoch keine abgeschlossene neue Geschichte. Einzelne Figuren verdoppeln sich oder verschmelzen miteinander. Verschiedene Varianten des Liebestods werden durchgespielt – und allesamt verworfen. So kriegen wir zum Ende keinen Abschluss, sondern einen vorsichtigen Neuanfang in Gestalt einer neuen Verfassung, vorgetragen mit farbig leuchtenden Masken im Dunkeln – eine berückend schöne Szene, die im Satz gipfelt: «Alle sind schwarz.»

Das Fazit der TheatermacherInnen scheint klar: Dieser Kleist-Text ist nicht zu retten, nicht mal als Zertrümmerung. Die TheatermacherInnen führen das Unfertige, Zornige ihrer Auseinandersetzung gegen den von Germanisten und Revolutionstheoretikerinnen immer wieder neu zurechtgelobten Klassiker ins Feld. Als Zuschauerin verlässt man den Abend erschöpft, nachdenklich, aber sicher nicht geläutert. Gut so.

«Die Verlobung von St.  Domingo – ein Widerspruch» ist im Mai mehrfach in der Schiffbau-Box des Schauspielhauses Zürich zu sehen. Genaue Spieldaten: www.schauspielhaus.ch.