Festung Europa: Salvinis Spion

Nr. 19 –

Eigentlich war es Pietro Gallos Job, auf einem Seenotrettungsschiff für Sicherheit zu sorgen. Dann machte er eine merkwürdige Beobachtung und informierte den heutigen Innenminister. Nun drohen zehn SeenotretterInnen zwanzig Jahre Haft.

Ein Missverständnis, und kein einziges Rettungsboot kreuzt mehr auf dem Mittelmeer: Das Seenotrettungsschiff Iuventa Anfang September 2016. Foto: Kenny Karpov

Als am Morgen des 2. August 2017 sein Telefon nicht mehr zu klingeln aufhört, ahnt Pietro Gallo, dass er einen grossen Fehler gemacht hat. Er befindet sich gerade auf dem Mittelmeer, einige Meilen vor der libyschen Küste, an Deck der «Vos Hestia», des Seenotrettungsschiffs der NGO Save the Children. Es sind JournalistInnen, die mit ihm sprechen wollen. Mit ihm, dem Spion und vermeintlichen Zeugen eines Verbrechens, das es vielleicht nie gegeben hat.

In den frühen Morgenstunden des 2. August, so wird Gallo später erfahren, wurde im Hafen von Lampedusa die «Iuventa», das Seenotrettungsschiff der deutschen NGO Jugend rettet, von den italienischen Behörden festgesetzt. Als Begründung wurde der Crew eine 551 Seiten lange Akte vorgelegt, die die ErmittlerInnen in Italien über Monate hinweg erstellt hatten. Der Verdacht: Beihilfe zur illegalen Migration nach Italien. Angeführt werden in der Akte drei Verdachtsmomente, der erste datiert vom 10. September 2016. Die vermeintlichen Belege: Zeugenaussagen, Berichte verdeckter ErmittlerInnen, abgehörte Telefongespräche. Ein Name, der immer wieder auftaucht: Pietro Gallo.

Eineinhalb Jahre später, im Frühjahr 2019, in einem fensterlosen Büro im römischen Viertel San Giovanni. Pietro Gallo trägt einen blauen Pullover über einem blau karierten Hemd, hat die dünnen grauen Haare nach oben gegelt. Er hat sich zu diesem Treffen bereit erklärt, um seinen Fehler zu erläutern.

Einen Fehler, in dessen Anschluss Gallo mit dem Tod bedroht wird und Matteo Salvini italienischer Innenminister ist, während kein einziges Rettungsboot mehr auf dem Mittelmeer kreuzt und zehn ehemaligen Mitgliedern der «Iuventa»-Crew in Italien bis zu zwanzig Jahre Haft drohen.

E-Mail an den Geheimdienst

Der Fall der «Iuventa» ist zur Zäsur für die zivile Seenotrettung auf dem Mittelmeer geworden. Die «Iuventa» ist das erste von vielen Seenotrettungsschiffen, die dazu gezwungen werden, ihren Einsatz auf dem Mittelmeer abzubrechen. «Ich fühle mich mitschuldig», sagt Gallo beim Treffen in Rom.

Der Tag, an dem die «Iuventa» zum Kriminalfall und Gallo zum vermeintlichen Zeugen wird, ist der 10. September 2016. Gallo ist gerade seit fünf Tagen auf See – als einer von vier Mitarbeitern der Sicherheitsfirma IMI Security an Bord der «Vos Hestia». Die Firma wurde von der Reederei, bei der das Rettungsschiff gechartert wurde, damit beauftragt, an Bord für Sicherheit zu sorgen.

Am Nachmittag, während 140 Flüchtlinge von der überfüllten «Iuventa» auf die weit grössere «Vos Hestia» gebracht werden, steht Gallo an Deck. Er sieht, wie zwei Männer mit einem leeren Flüchtlingsboot von der «Iuventa» ablegen und auf die libysche Küste zusteuern. Wahrscheinlich, um dort die nächste Menschenladung aufzusammeln und hinaus aufs Meer zu schicken, so vermutet er. «Das liess mich glauben, dass die Crew der ‹Iuventa› die Migranten vor unserer Ankunft von diesem Schlauchboot evakuiert und es dann im Wasser gelassen hat, mit den Schmugglern drauf», sagt er am 14. Oktober 2016 bei der Polizei im sizilianischen Trapani aus. So wird es später in der Ermittlungsakte zu lesen sein, die der WOZ vorliegt.

Die Entscheidung, seine Beobachtungen öffentlich zu machen, trifft Pietro Gallo schon Wochen zuvor zusammen mit seinen SicherheitsdienstkollegInnen Floriana Ballestra und Lucio Montenino. Anstatt die Polizei zu informieren, sendet das Trio am 25. September 2016 zunächst ein E-Mail an den italienischen Militärgeheimdienst AISE. Die «Iuventa», so schreiben sie, scheine ihnen ein «fester Bezugspunkt für die Schlepper zu sein, die Libyen mit Booten voll mit Migranten verlassen. Das führt zu der Annahme, dass eine Komplizenschaft zwischen dem Schiff ‹Iuventa› und den Schleppern besteht.»

Als sie kurz darauf keine Antwort erhalten, ändern sie ihre Taktik. Sie wollen sich an die Leute wenden, von denen sie glauben, dass sie die «Krise» auf dem Mittelmeer wirklich lösen wollen: die italienischen Oppositionsparteien. Noch am selben Tag wenden sich die KollegInnen mit einem E-Mail an den Fünf-Sterne-Abgeordneten Alessandro Di Battista. Als auch dieser nicht antwortet, rufen sie am Tag darauf im Büro der rechtspopulistischen Lega Nord in Mailand an. Sie wollen den Mann sprechen, der damals noch ein wenig bedeutender EU-Parlamentarier ist: Matteo Salvini.

Beim Treffen in Rom sagt Gallo, er und seine KollegInnen hätten naiv und aus Gutgläubigkeit gehandelt. Salvini spricht schon damals auf Demonstrationen, die Namen tragen wie «Stoppt die Invasion!», und kündigt auf Twitter «kontrollierte ethnische Säuberungen» an – zugleich gibt er den besorgten Realpolitiker. Nach einem Schiffsunglück im Mittelmeer sagt er: «Brauchen wir noch 700 Tote mehr, bis wir die Abfahrten stoppen? Ist es so schwer, eine Schiffsblockade zu veranlassen und festzustellen, wer ein illegaler Migrant ist und wer ein Flüchtling?» Die drei KollegInnen an Bord der «Vos Hestia» sind sich deshalb sicher, das Richtige zu tun.

Etwa dreissig Minuten nach dem Anruf im Büro der Lega Nord, so schildert es Gallo, habe sich Salvini gemeldet und angeboten, gleich nach Trapani aufzubrechen, um das Trio zu treffen. Weil die drei kurz darauf wieder in See stechen, sagen sie ab. Salvini bittet sie, weiterhin alles, was ihnen verdächtig scheint, zu dokumentieren und per Whatsapp an seinen Parteifreund Alessandro Panza zu senden.

Für Gallo ist das Telefonat der Startschuss einer kurzen Karriere als selbsternannter Privatdetektiv im Namen Salvinis. Er fotografiert Visitenkarten und Crewlisten, Crewmitglieder und gerettete Menschen. Heimlich überspielt er Videos von den Go-Pro-Kameras von Save the Children auf private Festplatten. Floriana Ballestra leitet die Materialien an Salvinis Kontaktmann weiter. Einmal schreibt sie an Gallo – die Nachricht liegt der WOZ vor –, Salvini habe ihr ausrichten lassen, dass es «nützlich wäre, eine Aufnahme zu haben, auf der jemand von Save the Children zugibt, dass sie das alles nur tun, um Öffentlichkeit zu bekommen». Gallo versucht auch das.

Der Kontakt mit Salvini endet laut Gallo im November 2016. Es werden zwei Jahre vergehen, bis Gallo sich wieder an Alessandro Panza wendet. Zumindest Floriana Ballestra aber pflegt weiter Kontakt zur Lega: Sie trifft sich im Frühjahr 2017 mit Salvini, wie dieser gegenüber der Zeitung «Il Fatto Quotidiano» bestätigt: «Natürlich habe ich Ballestra getroffen, eine kluge und tapfere Frau.»

Gallo fährt währenddessen weiter zur See. Bis zum August 2017. Wenige Tage nachdem bekannt wird, dass Gallo und seine KollegInnen monatelang für italienische Sicherheitsbehörden von Bord der «Vos Hestia» aus spioniert haben, beendet Save the Children die Zusammenarbeit mit IMI Security. Pietro Gallo verliert seinen Job. Seit 21 Monaten nun liegt die «Iuventa» im Hafen von Trapani – genauso lange ist Pietro Gallo arbeitslos.

Instrumentalisierter Verdacht

In der Zwischenzeit greifen immer mehr rechte und konservative PolitikerInnen aus ganz Europa seine Aussagen über die NGOs auf, instrumentalisieren sie für ihre eigene Anti-NGO-Propaganda. Noch im Frühjahr 2017 fordert der damalige österreichische Aussenminister Sebastian Kurz, der «NGO-Wahnsinn» müsse beendet werden, Matteo Salvini selbst verkündet 2018 zum Wahlkampfauftakt: «Die Regierung, die ich führen will, wird nicht einen einzigen illegalen Migranten oder Asylsuchenden in Italien an Land gehen lassen.»

Als Salvini im Juni 2018 sein Amt als Innenminister antritt, lässt er die italienischen Häfen für NGO-Boote schliessen. Ein paar Monate später lässt er ein Boot der eigenen Küstenwache mit 177 geretteten Flüchtlingen an Bord über zehn Tage in keinem italienischen Hafen anlegen. Zurzeit ist kein privates Seenotrettungsschiff mehr auf dem Mittelmeer aktiv. Pietro Gallo verfolgt fassungslos, was er ausgelöst hat. Es sei das Gegenteil von dem, was er zu erreichen versucht habe. Was hat er dann gewollt?

«Ich dachte, dass Salvini seine Möglichkeiten als EU-Parlamentarier nutzt, um auf europäischer Ebene eine humanitäre Lösung zu finden, damit weniger Menschen ertrinken», sagt Gallo. «Jetzt bin ich mir sicher: Er würde nicht davor zurückschrecken, Flüchtlinge an die Wand zu stellen.»

Um seine guten Absichten zu beweisen, zeigt er Videos, in denen er mit einem Kollegen einen bewusstlosen Mann auf das Rettungsboot der «Vos Hestia» hievt. Und die SchlepperInnen, die Pietro Gallo bei der «Iuventa» gesehen haben will? «Ich habe nie gesehen, dass die NGOs mit den Schleppern kooperieren, das war immer nur ein Verdacht, und den haben wir öffentlich gemacht.»

Sascha Gierke, der damalige Einsatzleiter auf der «Iuventa», hat eine andere Erklärung für Gallos Beobachtung. Tatsächlich habe die Crew eines der evakuierten Flüchtlingsboote längs der «Iuventa» befestigt. Weil sie während der Rettung keine Zeit gehabt hätten, es zu zerstören. Aber auch, weil sie befürchtet hätten, dass an diesem Tag noch mehr Flüchtlinge kommen würden, und weder an Deck noch auf den Rettungsinseln noch Platz gewesen sei.

Eine viel zu späte Einsicht

«Meine Crew hat dieses Schlauchboot mit einem zur ‹Iuventa› gehörenden Beiboot vom Schiff weggeschleppt, damit es uns beim Transfer der Menschen auf die ‹Vos Hestia› nicht behindert. Das einzige Szenario, das mir plausibel erscheint, ist, dass Gallo dachte, wir selbst seien die libyschen Schlepper», sagt Gierke. Das Boot sei auch nicht wie behauptet auf die libysche Küste zugesteuert, im Gegenteil hätten es die RetterInnen in einiger Entfernung vom Einsatzort zerstört. So, wie es mit den genutzten und verlassenen Flüchtlingsbooten zu der Zeit üblich war.

Der Einsatzbericht von Frontex bestätigt Gierkes Aussage. Für den Mann steht fest, dass er unschuldig ist. Ermittelt wird trotzdem: gegen ihn und neun weitere ehemalige Crewmitglieder. Gallos Einsicht kommt für sie Monate zu spät.

Warum spricht Gallo erst jetzt öffentlich darüber? Wortlos zieht Gallo die Kopie eines Briefs aus seiner Tasche, den er im November erhalten hat. Im Briefkopf ist ein Fadenkreuz eingezeichnet. In Grossbuchstaben steht da: «Merde merde merde – 2018 1800 people dead». Darunter vier Namen, die für die Toten verantwortlich gemacht werden, unter anderem der von Salvini und jener von Gallo. Mit Tesafilm ist eine golden glänzende Pistolenkugel befestigt. Das Original liegt inzwischen bei der Kriminalpolizei in Rom. Gallo hat ein Foto vom Brief per Whatsapp an Salvinis Kontaktmann Panza geschickt: «Jetzt ist es wirklich ZU VIEL!!!!»

Bis heute stehen unter der Nachricht zwei graue Häkchen – die bedeuten, dass die Nachricht zwar gesendet, aber niemals gelesen wurde. Es scheint, als habe Gallo für Salvini ausgedient.

Die «Iuventa»-Crew erhält am Freitag, 10. Mai 2019, den Paul-Grüninger-Preis. Die Verleihung findet um 19 Uhr im Palace St. Gallen statt.