Heimatschutz: Blei und Boden

Nr. 20 –

Sie geben sich als HüterInnen der Tradition, die das Wohl der Schweiz verteidigen. Doch die SchützInnen sind die grössten Verursacher von Bleiemissionen. Verseucht haben sie ausgerechnet die «Wiege der Nation»: das Rütli.

Nicht einmal die mobilen Kugelfangeinrichtungen können die Rütliwiese schützen: Armeenostalgiker beim Rütlischiessen 2007. Foto: Gaetan Bally, Keystone

Den passenden Titel für diese Geschichte hat SVP-Urgestein Ulrich Schlüer schon 2011 über einen Artikel in seiner «Schweizerzeit» gesetzt: «Ideologen schänden das Rütli». Aufgebracht schilderte er, wie Bagger «eine gewaltige Schramme in den Rütli-Boden gerissen» hatten, der Boden abgetragen, die Erde abtransportiert wurde. Ausgerechnet auf der schweizerischsten aller Wiesen, der Wiege der Eidgenossenschaft! Kraftort heimatverbundener Ausflüglerinnen, national orientierter Schweizer – und nicht zu vergessen: der SchützInnen. Jener Kräfte also, deren Verbände in diesen Tagen noch einmal tüchtig nachladen im Kampf gegen die EU-Waffenrichtlinie – zum Schutz der Traditionen und zum Wohl der Schweiz.

Doch es fragt sich, wer das Rütli und den Schweizer Boden im Allgemeinen tatsächlich «schändet»: Auf zahlreichen Schiessanlagen ist es nach wie vor üblich, ins Erdreich zu schiessen. In deren Böden sind gemäss dem Bundesamt für Umwelt (Bafu) insgesamt mehrere Tausend Tonnen Blei und andere Schwermetalle eingelagert. Jedes Jahr kommen zusätzliche 200 Tonnen Blei hinzu. «Das Schiessen verursacht heutzutage den grössten Eintrag von Blei in die Umwelt, mehr als doppelt so viel wie Verkehr, Industrie und Gewerbe zusammen», so die Behörde auf ihrer Website. Wenn sie Grundwasser, Gewässer oder den Boden gefährden, müssen die Schiessanlangen saniert werden, wobei der Bund einen Teil der Kosten übernimmt. Allerdings unter der Voraussetzung, dass ab 2021 keine Geschosse mehr in den Boden gelangen. So sehen es das Altlastenrecht und das Umweltgesetz vor. Konkret bedeutet das, dass bis zum 1. Januar 2021 auf allen Schiessplätzen künstliche Kugelfänge installiert oder die Anlagen stillgelegt werden müssen. An den Kosten für die Kugelfänge beteiligt sich der Bund nicht.

Ende Feuer fürs Habsburgschiessen

Für manche Schiessanlässe ist diese Vorschrift zur existenziellen Bedrohung geworden. Denn gerade an sogenannten Gedenkschiessen und historischen Schiessen, zu denen auch das Rütlischiessen gehört, wird oft noch ins Erdreich geschossen. «Manche Veranstalter haben ihre historischen Schiessanlässe bereits in einen regulären Schiessstand gezügelt», sagt Silvan Meier vom Schweizer Schiesssportverband (SSV). «Doch das ist natürlich kein Vergleich mit dem Schiessen im freien Feld. Auf dem Rütli und am Morgarten liegt man schräg im Hang auf dem Stroh und muss leicht nach oben oder nach unten schiessen. Genau das macht den Reiz aus.» Sowohl auf dem Rütli als auch beim Morgartenschiessen wird mit dem Gewehr auf einen Felshang geschossen. Im Kanton Zug befürchtet man, dass die Umsetzung des Altlastenrechts des Bundes für das historische Morgartenschiessen den Todesstoss bedeuten könnte. Die Kosten der Sanierung des Zielhangs werden auf 600 000 Franken geschätzt, ein neues Kugelfangsystem auf 300 000 Franken. Zudem müsste eine Zufahrtspiste angelegt werden, um die Kugelfänge überhaupt an- und abtransportieren zu können. Das Habsburgschiessen im Aargau fand derweil am vergangenen 5. Mai zum 112. und letzten Mal statt. Die Anschaffung eines Kugelfangsystems sei unverhältnismässig teuer, sagten die OrganisatorInnen. Und fügten noch hinzu, dass es auch an Mitgliedern mangle.

Doch es ist Rettung in Sicht: Die Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie des Nationalrats hat im Januar einen Gesetzesentwurf angenommen, der vorsieht, dass der Bund bei historischen Schiessen mit langer Tradition die Sanierung nach 2021 auch dann unterstützt, wenn weiterhin in den Boden geschossen wird. Zudem soll er Beiträge für die Installation von Kugelfängen gewähren. Der Gesetzesentwurf geht auf eine parlamentarische Initiative von SVP-Nationalrat Adrian Amstutz aus dem Jahr 2015 zurück: Es handle sich bei den historischen Schiessen um ein «wichtiges Kulturgut der Schweiz, mit dem unsere gemeinsame Geschichte, die Wehrhaftigkeit der Schweiz und der gesellschaftliche Zusammenhalt» gepflegt würden. Die «Verabsolutierung des Umweltschutzes» sei völlig unverhältnismässig.

17 000 Kugeln in sechs Stunden

«Es ist löblich, dass man nicht mehr in den Boden schiessen soll», so Silvan Meier vom SSV. «Die Initiative Amstutz ist aber sehr wichtig für historische Schiessen und Feldschiessen, die schon bestehen. Das Morgarten- und das Rütlischiessen gibt es schon über hundert Jahre, das sind wichtige Anlässe mit langer Tradition.» Ausserdem fänden die historischen Schiessen ja nur einmal im Jahr statt. «Das ist eine verhältnismässig kleine Belastung.» Dennoch wird der Boden am Morgarten jährlich mit zusätzlichen 100 bis 150 Kilogramm Blei belastet. Und das seit 106 Jahren.

Über das 300-Meter-Gewehrschiessen, das letztes Jahr zum 156. Mal auf dem Rütli stattfand, hat der «Schweizer Bauer» geschrieben: «Geschossen wird pausenlos, sechseinhalb Stunden lang, 17 280 Kugeln fliegen in dieser Zeit in den Zielraum.» Die GewehrschützInnen haben Glück: Der Zielhang liegt in einem Waldstück. Nach Altlastenrecht muss man im Wald keine Sanierungen machen, wenn kein Grundwasser oder landwirtschaftlich genutzter Boden betroffen ist.

Anders sieht es beim ebenfalls auf dem Rütli stattfindenden historischen Pistolenschiessen aus: 900 TeilnehmerInnen feuerten hier jedes Jahr je 15 Schüsse (also insgesamt 13 500 Kugeln) direkt ins Erdreich. Und das während 75 Jahren – bis zur Sanierung im Jahr 2011, die Ulrich Schlüer derart empörte. Seither wird jedes Jahr ein eigens fürs Rütli konstruiertes Kugelfangsystem aufgestellt. Da die vierzig Bleifänge nicht das ganze Jahr auf der Wiese stehen dürfen, werden sie jeweils extra fürs Rütlischiessen aufgestellt, danach wieder abtransportiert und eingelagert. Doch eine Nachmessung im Jahr 2016 ergab: Der Boden auf dem Rütli ist wieder verbleit. Der Pistolenschützenverein muss sein Kugelfangsystem nun sanieren, sodass es einen Wirkungsgrad von 95 Prozent erreicht. Sonst darf das nächste Pistolenschiessen auf dem Rütli nicht durchgeführt werden.

Die genauen Bodenmesswerte scheinen ein heisses Eisen zu sein. Die entsprechende Anfrage der WOZ wird zwischen dem Urner Amt für Umwelt (AfU) und dem Bundesamt für Bauten (BBL), das die Sanierung 2011 durchführte, hin- und hergereicht. Zuerst heisst es jeweils, man habe die Werte nicht. Dann ist man sich nicht sicher, ob sie rausgegeben werden dürfen. Der Leiter des AfU, Alexander Imhof, formuliert es schliesslich so: «Auf dem Boden des Scheibenstands gibt es ein paar Hotspots mit einer Bleikonzentration von bis zu 2000 Milligramm Blei pro Kilogramm Erde. Das entspricht einer siebenfachen Überschreitung des zulässigen Grenzwerts und stellt eine Gefährdung von Tier und Mensch dar.» Man habe deshalb den Bereich eingehagt. Betroffen ist eine Fläche von insgesamt 350 Quadratmetern. Imhof betont aber: «Nicht die ganze Fläche ist so hoch belastet, es gibt nur sehr lokal sehr hohe Spitzenwerte.» Deswegen habe man auch nicht wieder eine Sanierung verfügt, sondern in einem ersten Schritt die Verbesserung des mobilen Kugelfangsystems gefordert.

OK-Präsident des Pistolenschiessens ist der Urner Finanzdirektor Urs Janett: «Gerade letzten Donnerstag haben wir mit einer Expertengruppe eine Begehung auf dem Rütli gemacht.» Die Ursache der erneuten Verbleiung ist für Urs Janett klar: «Die höchsten Werte finden sich an den Stellen, wo man die Kugelfänge auf den Ladewagen verlädt.» Das Kugelfangsystem funktioniere an sich, alleine der Verlad sei das Problem. Er ist zuversichtlich, dass das Problem gelöst wird. «Es kann nicht sein, dass wir die Wiese verbleien. Die Grenzwerte müssen eingehalten werden.» Ein Bewilligungsgesuch wurde noch nicht eingereicht. Auf der Website kann man sich dennoch schon fürs 82. Historische Rütlischiessen 2019 anmelden.