«Die Vergangenheit ist vielleicht die grösste Utopie» Wenn uns die Wörter abhandenkommen, verschwinden die Dinge: Schriftstellerin Judith Schalansky über ihre Kindheit – und den Traum von einer Ökodiktatur.

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Judith Schalansky Foto: Jürgen Bauer

WOZ: Frau Schalansky, wo mussten Sie zuletzt hilflos zusehen, wie etwas verschwand?
Judith Schalansky: Vor meinem Fenster in Berlin wurden kürzlich vier Pappeln gefällt. Das war ein schrecklicher Moment, der mich ohnmächtig gemacht hat. Das hat Amputationsgefühle in mir hervorgerufen, weil der Blick aus dem Fenster ja gefühlsmässig zum Wohnraum gehört. Wenn auf einmal diese Bäume verschwinden, deren Blätter auch so etwas angenehm Wimpelartiges haben, dann ist das schon ein grosser Einschnitt.

Und was haben Sie vor dem Verschwinden retten können?
Das Gute am Fällen der Pappeln war, dass ich über diesen Verlust in Kontakt mit dem zuständigen Mann beim Landflächenamt kam. Der sagt mir jetzt immer Bescheid, wenn sie auf dieser Grünfläche etwas unternehmen. Letzte Woche teilte er mir mit, dass sie den Efeu zurückschneiden wollten. Und dann schrieb er, dass sie die Aktion abgebrochen hätten, weil die Vögel schon zu brüten angefangen hätten. Ich bilde mir ein, dass die Sache mit den Pappeln dazu geführt hat, dass dieser Mann ein bisschen Rechenschaft ablegen muss. Demnächst sollen Linden gepflanzt werden. Das dauert zwar Jahrzehnte, bis die so gross werden wie die gefällten Pappeln, aber dafür halten sie dann auch ewig.

Ihr Buch «Verzeichnis einiger Verluste» ist eine Art literarischer Friedhof, inspiriert von Dingen und Wesen, die nicht mehr da sind. Ein Buch der Trauer?
Es ist ein Buch übers Klarkommen mit etwas Unweigerlichem, also auch eine Trauerarbeit, ja. Trauer ist im besten Fall etwas Temporäres. Wer sein Leben lang trauert, lebt nicht. Aber es ist auch klar, dass wir Trauer brauchen, um etwas loslassen zu können. Der Ursprung des Buches war allerdings weniger Trauer als Verlustangst – auch aus einem magischen Denken heraus: Wenn ich mich mit verlorenen Dingen beschäftige, bin ich gewappnet für mögliche Verluste. (Pause.) Was ja Quatsch ist, siehe Pappeln.

Verschwinden muss ja nicht nur Grund für Trauer sein. Es gibt auch die Sehnsucht nach dem Verschwinden.
Genau, wobei die Sehnsucht grundsätzlich immer grösser ist als ihre mögliche Erfüllung. Bei meinem «Atlas der abgelegenen Inseln» ging es um Orte, die so schwer zu erreichen sind, dass sie dadurch zu Fantasmen werden und zu Projektionen eigener Träume, die dann, wenn man wirklich dort ankommt, zerplatzen – auch weil klar wird, dass man sich selber mitgebracht hat und allein schon dadurch das Paradies verunmöglicht wird.

Sie sind in einem Staat aufgewachsen, den es nicht mehr gibt. Was macht das mit der Imagination, wenn die DDR, das Land Ihrer Kindheit, einfach von der Landkarte verschwindet?
Kartografisch ist das Land ja noch da, nur verlaufen die Grenzen seither eben anders. Ich kam damals in die fünfte Klasse und fand das unverschämt, dass wir nun sehr viel mehr Flüsse und Berge zu lernen hatten, weil das Land plötzlich viel grösser geworden war. Aber das ist natürlich eine tiefgreifende Erfahrung, dass Dinge, von denen man es nicht für möglich gehalten hätte, sich in so kurzer Zeit ändern können: ein anderes politisches System, anderes Geld, auch andere Parolen. Also nicht mehr «Der Kommunismus wird kommen», sondern «Kauf Coca-Cola». Formeln und Slogans gibt es immer, das hat auch etwas Beruhigendes. Gleichzeitig ermöglichte mir diese Erfahrung, die Gegenwart als zukünftige Vergangenheit zu sehen. Das Bewusstsein, dass alles auch anders sein könnte, empfinde ich als bereichernd.

Mal abgesehen vom politischen Apparat: In welcher Hinsicht ist die DDR wirklich weitgehend verschwunden?
(Überlegt lange.) Ich wünschte, ich könnte das formulieren. Seit dreissig Jahren gibts diesen Staat nicht mehr, er hat nur vierzig Jahre existiert. Bei einer Beziehung sagt man, dass man halb so lange, wie sie gedauert hat, braucht, um über sie hinwegzukommen – aber das gilt offenbar nicht für politische Systeme. Es gibt da einen Phantomschmerz, der mit einem Lebensgefühl zu tun hat. Wir sind immer noch dabei zu versprachlichen, was überhaupt passiert ist, was wirklich abhandengekommen ist. Wenn ich mir alte Defa-Filme oder Fotobände anschaue, darin Blicke sehe, eine Art, zu schauen, die es nicht mehr gibt, die es nicht mehr geben kann, gibt es schon den Wunsch, noch einmal in dieses Bild hineinzugehen. Das ist aber schwer zu trennen von einer Sehnsucht nach der eigenen Kindheit.

Das Kapitel «Palast der Republik» in Ihrem neusten Buch, war das ein Versuch, diese Erfahrungswelt nochmals dingfest zu machen?
Ja, auf jeden Fall. Eine Lebenswirklichkeit nochmals herzustellen: Okay, wie war das noch mal, wann hat man eine Wohnung gekriegt? Wie selbstverständlich war das, einen Garten zu haben? Ach ja, man hat ja 20 Jahre auf einen Telefonanschluss gewartet und 25 Jahre auf ein Auto – und durfte sich dann nicht mal die Farbe aussuchen. Als mein Grossvater sein Auto abholen durfte, stand da ein ganzer Platz voller blauer Trabis, und der Mann sagte zu ihm: «Suchen Sie sich einen aus.»

Und auf welcher Ebene ist die DDR bis heute besonders gegenwärtig?
Na, in allen Interviews, wo es darum geht, den Erfolg der AfD zu erklären. Es hat letztlich was Paternalistisches: Ostdeutschland ist sozusagen die jüngste Kolonie, das hat auch damit zu tun, dass es wirklich eine Abwicklung war. Es ist zwar hübsch, dass sich die Metapher der «Einheit» sprachlich durchgesetzt hat. Aber eine Einheit ist, wenn beide Teile was einbringen. Und was hat die DDR eingebracht? Das Ampelmännchen, das ist relativ dürftig. Aber es hat sich eben jene Menge durchgesetzt, die eine schnelle Einheit wollte, mit allen heute bekannten Nachteilen.

Kaum etwas auf der Welt verschwindet einfach so. Wenn ein Flugzeug scheinbar vom Nichts verschluckt wird, ist das ein Affront für unseren Verstand. Auch wenn dieser Vorfall nur auf einer Zeile Eingang ins Buch gefunden hat: Hat Sie das umgetrieben?
Natürlich. Dass so etwas geschehen kann, ist gegen den Verstand. Das rührt an unser innerstes Selbstverständnis. Es verweist aber letztlich darauf, was wir alles noch nicht wissen. Wir wissen weder, warum die Hirsche alljährlich ein Geweih ausbilden, noch, warum Katzen schnurren. Wir wissen auch nicht, warum wir schlafen. Wir glauben, dass wir in einer aufgeklärten, säkularisierten Welt leben. Dabei sind wir durchtränkt von magischem Denken. Das Mythische überwintert irgendwo. Das sieht man auch daran, dass alle Ideologien religiöse Züge haben – wie eben das kapitalistische System, die Kräfte des freien Marktes, zu denen es angeblich keine Alternative gibt. Das finde ich völlig irre.

Wir reden auch vom Artensterben, was klingt, als wäre es ein passives Verschwinden. Da wirkt die Sprache als ideologisches Werkzeug, das den Menschen als Akteur kleinredet.
Ja, als ob das einfach ein Kommen und Gehen wäre. Das Problem ist bloss, dass ein alarmistisches Sprechen auch nicht hilft. Wenn alles eh schon schlimm ist, können wir ja auch nichts mehr machen ausser im Ökoladen einkaufen. Wird in der Schweiz Kerosin besteuert?

Schön wärs!
Ich möchte in einem Land leben, in dem Kerosin besteuert wird! Wieso gibt es das nicht? Wir buchen zwar Achtsamkeitskurse und engagieren Aufräumorganizer, glauben aber gleichzeitig, dass Verzicht etwas Schreckliches ist. Dabei kann das auch etwas Bereicherndes sein, dieses Zusammenschrumpfen der Wahlmöglichkeiten. Zum Beispiel fliege ich jetzt nicht mehr. Das schränkt meine Reiseplanung zwar ein, befreit aber auch von vielen irrwitzigen Unternehmungen. Ehrlich gesagt träume ich von einer Ökodiktatur.

Ach ja? Wie sähe Ihre Ökodiktatur denn aus?
Also: Schienennetz von 1920, weitgehender Verzicht auf Autoverkehr, alles muss auf Schienen funktionieren. Wahnsinnig viel Beschränkung. Fleischverbot, ist ja klar – vielleicht einmal die Woche, sofern man das Tier selbst getötet hat. Das Schlimme ist, dass ich mich dann dabei ertappe, wie ich mir utopistische Reglements ausdenke, die vom Stalinismus nicht weit entfernt sind. Das ist die Krux. Gleichzeitig will ich mich mit dieser Alternativlosigkeit nicht abfinden, das macht mich wahnsinnig.

Was wäre in Ihrer Ökodiktatur mit dem Papier für die Bücher?
Das ist ein nachwachsender Rohstoff. Es gibt übrigens auch Bücher, die kompostierbar sind, was ich hochsympathisch finde.

Eine besonders erhabene Vorstellung des Verschwindens ist die Fantasie einer Welt ohne Menschen, von der auch in Ihrem Roman «Der Hals der Giraffe» die Rede ist: der Mensch als «flüchtiges Vorkommnis auf Proteinbasis», das irgendwann wieder verschwinden wird. Eher Albtraum oder Utopie?
Das ist hoch ambivalent. Vor allem, wenn man Kinder hat. Einerseits braucht die Erde nicht noch mehr Menschen, gleichzeitig entsteht durch die Elternschaft noch einmal ein anderes Verantwortungsgefühl. Es ist die alte Frage, ob es grauenerregender ist, dass alles ein Ende hat, oder eben, dass es keins geben könnte. Ehrlich gesagt, es macht mich stottern … Ja, vielleicht ist es doch tröstlich, dass es auch ohne uns weitergehen wird. T. C. Boyle sagt, die Ratten hätten das Zeug dazu, uns zu beerben, weil sie uns so ähnlich sind. Sie vermehren sich gut, können annähernd überall leben, unter widrigsten Umständen. Das wäre natürlich ironisch. Aber irgendwie auch gerecht. Vielleicht werdens aber auch die Schleimpilze. Das wär auch geil.

Von der Natur sei ja eigentlich nichts übrig, findet die misanthropische Lehrerin im «Hals der Giraffe». Sehen Sie das auch so?
Ja, Natur ist eine Idee. Aber wir sind relativ grosszügig darin, etwas «Natur» zu nennen. Wahrscheinlich kommen wir nicht davon weg, die Natur als Platzhalter für das verlorene Paradies wahrzunehmen. Aber unsere Vorstellungen von Artenvielfalt sind ja auch so statisch. Deshalb haben wir zum Beispiel Naturschutzgebiete, die wie Museen funktionieren. Das ist wie ein Ablasshandel: Da ist noch alles gut, damit wir woanders alles ruinieren können. Schon verrückt, dass wir alles niedermachen, was da ist, um es dann mit sehr viel Aufwand wieder herzustellen, wie künstliche Biosphären oder die Fruchtbarkeitsbehandlungen für das Nördliche Breitmaulnashorn.

Sie geben die Reihe «Naturkunden» heraus, darin gibt es das Buch «Die verlorenen Wörter» von Robert Macfarlane. Die Frage, die ihn umtreibt: Was, wenn uns die Wörter für die Natur abhandenkämen? Wie berechtigt ist diese Sorge?
Die ist durchaus berechtigt. Er ist ja vom «Oxford Junior Dictionary» ausgegangen, wo bestimmte Begriffe aus der Natur aussortiert wurden, um Begriffe aus den digitalen Medien neu aufzunehmen. Die Wörter, die uns geläufig sind, entscheiden darüber, was für uns noch existiert. Wenn ich durch die Landschaft bei Greifswald gehe und nicht mehr weiss, ob das jetzt Schachtelhalm ist oder ein komischer Pilz, dann hat mein Verstummen etwas damit zu tun, dass diese Lebensform keine Lobby hat, dass niemand für sie spricht. Und etwas, das keinen Namen hat, existiert nicht. Das wissen wir auch aus den kolonialen Erfahrungen: wie sehr Identität, Macht und Herrschaft an Namen und an Sprache geknüpft sind.

Macfarlanes Buch versteht sich als «Gegenzauber zu Beton, Feinstaub, Entfremdung». Wobei «Feinstaub», für sich genommen, schon auch ein unverschämt zauberhaftes Wort ist, finden Sie nicht?
Total. «Feinstaub» klingt tatsächlich unfassbar schön. Aber ehrlich gesagt finde ich auch das Wort «Beton» nicht unschön. Wobei hier auch wieder die alte Dichotomie aufgerissen wird: Beton auf der einen Seite, auf der anderen die heile Natur, die es natürlich nicht gibt. Es ist problematisch, das gegeneinander auszuspielen, zumal sich Beton auch wieder zersetzt. Interessanterweise ist es ja so, dass mittlerweile alte Militärübungsplätze oder verseuchte Orte zu neuen Naturschutzreservaten werden. Selbst in Berlin gibt es eine höhere Artenvielfalt als in den umliegenden Ländereien Brandenburgs.

Auch Ihre eigenen Bücher sind ein Reservoir für Wörter, die verloren oder im Verschwinden begriffen sind. In «Verzeichnis einiger Verluste» leuchten immer wieder Wörter auf, die mir noch nie begegnet sind. Was ist zum Beispiel eine «Hutung»?
Das hab ich mir auch erst für das Buch angeeignet. Hutungen sind alte Eichenwälder, in die früher Schweine getrieben wurden. Wenn man einzelne Eichen sieht, sind das oft Relikte einer solchen Hutung. Schweine waren ja die Tiere der Armen, weil sie alles frassen, was herumlag. Die haben Städte vom Abfall freigefressen und gleichzeitig Fleisch angesetzt, das man dann wieder verwerten konnte.

Es gibt ja auch Wörter, die nicht verschwinden konnten, weil es sie nie gegeben hat. Die literarische Gattung des «Nature Writing» zum Beispiel: Woran liegt es, dass wir kein deutsches Wort dafür haben?
Es gibt die These, dass die deutschen Romantiker schuld sind, weil sie die Natur so sehr für die eigene Seelenlandschaft besetzt haben, dass nichts mehr übrig geblieben ist. Ein wirkliches Sehen und Beschreiben dessen, was wir in der Natur finden, hat im Deutschen dann nur in der Reiseschriftstellerei von fremden Welten überwintert. Aber seit wir die «Naturkunden» gegründet haben, ist das Schreiben über Natur immer politischer geworden.

Als Büchermensch und als Herausgeberin der «Naturkunden» halten Sie gleich zweifach an Welten fest, die manche vom Verschwinden bedroht sehen: die Natur als Lebensraum, das Buch als Medium. Verstehen Sie sich eigentlich als Konservatorin?
Als Archivarin.

Warum nicht Konservatorin?
Na, weil da das Konservative drinsteckt, das politisch besetzt ist. Das Buch ist ja ein langsames, im Wortsinn konservatives Medium: Es nimmt etwas auf und versucht, es festzuhalten. Aber das Konservative kann manchmal auch das Utopische sein.

Wie meinen Sie das?
Die Vergangenheit ist auch ein Möglichkeitsraum, sie ist vielleicht die grösste Utopie. Die grosse Frage, ob ein anderes Leben möglich ist: Dafür muss man sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Das beginnt in dem Moment, wo man sich klarmacht, was für Räume andauernd verloren gehen, oder wo man anfängt, Vögel oder Insekten zu zählen: Wann hab ich zum letzten Mal einen Stieglitz gesehen? Und seit wann sind deutsche Bahnhöfe nur noch Shoppingmalls und keine öffentlichen Orte mehr, wo ich mich aufhalten kann, ohne konsumieren zu müssen? Ich lebe in Berlin, und ich denke immer: Leute, ihr hattet alle Chancen der Welt, und euch ist nichts anderes eingefallen als Shoppingmalls und Eigentumswohnungen? Das kann doch nicht wahr sein.

Judith Schalansky (38) studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign und lebt als Schriftstellerin und Buchgestalterin in Berlin.

Zuletzt sind von ihr erschienen: «Atlas der abgelegenen Inseln» (2009), «Der Hals der Giraffe» (2011) und «Verzeichnis einiger Verluste» (2018).

Veranstaltung in Solothurn: Sa, 1. Juni 2019, 10 Uhr.