Prozess gegen russische Anarchisten: Das «Netzwerk»

Nr. 21 –

Neun junge Leute aus der antifaschistischen Szene Russlands drohen bis zu zwanzig Jahren Haft. Das Terrorismusverfahren beruht auf fragwürdigen Beweismitteln und Aussagen unter Folter.

Faxen bei der Käfigvorführung: Wiktor Filinkow und Juli Bojarschinow in einem St. Petersburger Gerichtssaal. Foto: David Frenkel

Die 23-jährige Alexandra Aksjonowa hätte gute Chancen gehabt, ebenfalls auf der Anklagebank in St. Petersburg zu sitzen. Ihr Ehemann, der 24-jährige Programmierer Wiktor Filinkow, steht dort seit Anfang April vor einem Militärgericht. Filinkow und seinem Mitangeklagten, dem 27-jährigen Juli Bojarschinow, drohen wegen «Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung» bis zu zehn Jahre Haft.

Die beiden jungen Männer sollen mit politischen Aktivisten aus Pensa – einer Provinzstadt etwa 600 Kilometer südöstlich von Moskau – einer verbotenen Terrororganisation mit dem profanen Namen «Das Netzwerk» angehören. In Pensa sind sieben weitere junge Männer in diesem Fall angeklagt, darunter Dmitri Ptschelintsew und Ilja Schakurski, denen gar Haftstrafen von bis zu zwanzig Jahren drohen, weil sie die «terroristische Vereinigung» gegründet haben sollen.

Unbekannte, zukünftige Straftaten

Gemäss dem Inlandsgeheimdienst FSB hätten die jungen Männer geplant, die Situation im Land zu destabilisieren. Als Mittel zum Zweck seien auch Aktionen während der Fussballweltmeisterschaft 2018 angedacht gewesen. Doch während der ersten Prozesswoche in St. Petersburg kamen weder konkrete Verdachtsmomente zur Sprache, noch finden sich in den Akten dazu entsprechende Beweismittel. Die Anklageschrift setzt sich aus einer Kette reiner Vermutungen zusammen: Unbekannte Personen hätten zu einem unbekannten Zeitpunkt an unbekanntem Ort zukünftige Straftaten geplant.

Alexandra Aksjonowa gehört wie ihr Mann zur anarchistischen und antifaschistischen Szene Russlands. Inzwischen hat sie in Finnland politisches Asyl erhalten und verfolgt den Prozess aus räumlicher Distanz. Zwar wird der 23-Jährigen im Gefüge des vermeintlichen Terrornetzwerks kein fester Platz zugewiesen, vor Gericht stand dennoch ausführlich zur Debatte, dass sie Filinkow eine Waffe besorgt haben soll – obwohl Aksjonowa legal über einen Jagdschein verfügt und das von ihr erworbene Gewehr in der gemeinsamen Wohnung vorschriftsgemäss aufbewahrt wurde. Ansonsten fusst die Beweisführung gegen den Programmierer auf den Aussagen anderer und auf wenig aussagekräftigen Indizien – etwa der Entsorgung von Festplatten.

Weiter steht in der Anklageschrift, dass Filinkow und Aksjonowa keine Gäste zu ihrer standesamtlichen Eheschliessung eingeladen hätten und dass dies als Weigerung des Angeklagten gedeutet werden müsse, positive gesellschaftliche Bindungen einzugehen. «Ich bin mir nicht sicher», sagt Aksjonowa. «Aber möglicherweise bezog sich diese Gerichtsverhandlung nicht auf Wiktor, sondern auf mich.»

Angefangen hat die Strafverfolgung des «Netzwerks» in Pensa mit einem dummen Zufall, so viel ist inzwischen klar. Jegor Sorin, ein Freund des 23-jährigen Schakurski, wurde im Frühjahr 2017 mit Drogen erwischt. Als die Polizei herausfand, dass er Kontakte zu anarchistischen und antifaschistischen Kreisen unterhält, setzte sie Sorin unter Druck, bis dieser mit umfangreichen Aussagen eine Vorlage für die Terrorermittlungen lieferte.

Brandwunden von Elektroschocks

Im Zuge der Vorbereitungen zu den Präsidentschaftswahlen im März 2018 und der Fussball-WM im Sommer 2018 galt für die Sicherheitsbehörden erhöhte Alarmbereitschaft. Der FSB versuchte dabei offenbar, mit der Aufdeckung einer Terrorgruppe zu punkten; im Oktober 2017 erfolgten die ersten Festnahmen in Pensa. Fast alle der Angeklagten sagten damals im Sinne der FSB-ErmittlerInnen aus – nachdem sie teils schwer misshandelt worden seien. Der Angeklagte Dmitrij Ptschelintsew berichtet etwa, wie er in einer Zelle mit dem Kopf nach unten aufgehängt worden sei. Sein erster Anwalt habe ihn zudem zu einem Schuldgeständnis gedrängt. Später nahmen Ptschelintsew und die meisten der Mitangeklagten ihre Aussagen zurück.

Alexandra Aksjonowas Ehemann hatte als Erster im Rahmen der «Netzwerk»-Ermittlungen von Folter direkt nach seiner Festnahme berichtet. Eine für die Beobachtung von Haftbedingungen zuständige unabhängige Kommission dokumentierte von einem Elektroschockgerät stammende Brandwunden von seinem Oberschenkel bis zur Hüfte. Strafrechtliche Konsequenzen für die Täter sind indes nicht in Sicht.

Die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft, wonach das «Netzwerk» Anschläge geplant habe, hält Aksjonowa für reine Fantasie. «In unserem Fall ist viel wichtiger, dass der Staat es für ausreichend hält, dass sich politische Opponenten zusammenschliessen», sagt sie. Wer eine staatskritische Haltung an den Tag lege, mache sich verdächtig.

So wirft die Anklage den jungen Männern vor, sie hätten für Kampfhandlungen trainiert. Allerdings auf an sich völlig legale Weise: in einem der zahlreichen Clubs, die das in Russland beliebte taktische Kommando- und Militärspiel Airsoft anbieten. Und pikanterweise in einem Club, in dem sich zuvor freiwillige Kämpfer für Einsätze im ukrainischen Donbass fit gemacht hatten, ohne dass diese von den Sicherheitsbehörden dafür behelligt worden wären.

Dass die Anklage gegen das «Netzwerk» auf tönernen Füssen stehe, habe sich beim Prozessbeginn in St. Petersburg direkt nach den ersten Zeugenaussagen bestätigt, sagt Schenja Kulakowa von der Solidaritätskampagne für die neun Angeklagten. «Ich vermute, dass die Verhandlungen verschoben worden sind, weil bereits während der ersten Tage deutlich wurde, wie absurd die Situation ist.»

Das Gericht in Pensa hatte den auf April angesetzten Verhandlungstermin kurzfristig auf Mitte Mai verschoben. Zeitgleich wird nun auch der Prozess in St. Petersburg nach einmonatigem Unterbruch fortgesetzt.

Nachtrag vom 13. Februar 2020 : Hart bestrafte Antifaschisten

Über acht Monate dauerte der Prozess gegen sieben junge Antifaschisten und Anarchisten in der russischen Stadt Pensa; am Montag war die Urteilsverkündung. Wegen «Organisation einer und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung» verhängte das zuständige Militärgericht Haftstrafen zwischen sechs und achtzehn Jahren – und folgte damit der Anklage. Die Verteidigung hatte auf unschuldig plädiert. Gegen Einzelne war zudem Anklage wegen Drogenhandels und illegalen Waffenbesitzes erhoben worden. Zwei der Verurteilten gaben zu, mit Drogen gedealt zu haben.

Laut dem Inlandsgeheimdienst FSB soll das angebliche «Netzwerk» Anschläge geplant haben, um einen Umsturz herbeizuführen. Aus der jeglicher Rechtsstaatlichkeit spottenden Beweisführung ergibt sich nichts, das solch schwerwiegende Vorwürfe rechtfertigen könnte, zumal es in dem Fall keine Betroffenen, keine Tatorte und viele ungeklärte Umstände gibt. Im Wesentlichen stützt sich die Anklage auf fragwürdige Zeugenaussagen. Vor Gericht wiesen mehrere Befragte darauf hin, dass sie unter Druck gesetzt worden seien. Ein in Pensa stadtbekannter Neonazi behauptete etwa, der Antifaschist Ilja Schakurski, der zu sechzehn Jahren Haft verurteilt wurde, habe versucht, ihn anzuwerben. Einige Beweismittel, etwa die laut eines Gutachtens nachträglich erstellte Datei mit dem angeblichen Statut der Gruppe, wurden offenbar gefälscht.

Gleichzeitig weigert sich der Justizapparat beharrlich, Foltervorwürfen gegen den FSB nachzugehen, die einige der jungen Antifaschisten in Pensa und St. Petersburg erhoben hatten. Dort stehen derzeit zwei weitere angebliche Angehörige einer «Terrorzelle» des vermeintlichen «Netzwerks» vor Gericht. Das Urteil von Pensa will die Verteidigung anfechten.

Ute Weinmann, Moskau

Nachtrag vom 25. Juni 2020 : Lücken und Widersprüche

Sieben und fünfeinhalb Jahre Haft – so lautet das Urteil gegen zwei Antifaschisten in St. Petersburg. Das zuständige Militärgericht befand Wiktor Filinkow und Juli Bojarschinow am Montag für schuldig, einer vermeintlichen Terrororganisation anzugehören. Das sogenannte Netzwerk habe, so die Anklage, aus mehreren Zellen bestanden und sei mit dem Ziel gegründet worden, die verfassungsrechtliche Ordnung zu stürzen. In Pensa endete bereits im Februar ein Prozess gegen sieben weitere junge Männer mit hohen Haftstrafen zwischen sechs und achtzehn Jahren. Einige von ihnen sollen an einem konspirativen Treffen in St. Petersburg teilgenommen haben, bei dem ein Protokoll angefertigt worden sei, das im Verfahren als eine der wesentlichen Grundlagen diente.

Die Beweisführung liess jedoch zu wünschen übrig. Mehrmals musste der Prozess unterbrochen werden, und die Verteidigung von Filinkow setzte alles daran, die vielen Mängel aufzudecken. Der leitende Ermittler des Inlandsgeheimdiensts FSB aus Pensa konnte wegen Erinnerungslücken nicht zur Klärung der fragwürdigen Aktenlage beitragen. Sein Kollege aus St. Petersburg wurde erst gar nicht vorgeladen, obwohl dieser Filinkow nach der Festnahme mutmasslich mit Elektroschocks malträtiert hatte. Filinkow hatte als Erster der Angeklagten über die Folter gesprochen.

Trotz des Schuldspruchs verbuchte die Verteidigung einen kleinen Sieg: Der vorsitzende Richter nannte in seiner Urteilsverkündung als Datum der Festnahme nicht das im Protokoll vermerkte, sondern den Tag der früher erfolgten faktischen Festnahme. Filinkow war zunächst spurlos verschwunden – und in diesen Zeitraum fällt ebenfalls die geschilderte Folter. Das Gericht ging diesem Vorwurf nicht nach, zumindest fand er nun aber als weiterer Widerspruch im Verfahren offiziell Berücksichtigung.

Ute Weinmann