EU-Rahmenabkommen: Chronik einer Irrfahrt

Nr. 25 –

Es geht weder vorwärts noch zurück beim EU-Rahmenabkommen: Eine Rekonstruktion der Ereignisse zeigt, wie der Chefunterhändler Roberto Balzaretti und der FDP-Aussenminister Ignazio Cassis die Schweiz in diese missliche Situation manövriert haben.

Den Angriff auf den Lohnschutz legitimiert: Staatssekretär Roberto Balzaretti und Bundesrat Ignazio Cassis bei der Pressekonferenz zum Verhandlungsergebnis. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Die Nachricht der Schweizer Depeschenagentur war kurz, doch sie hatte fast prophetischen Charakter. «Die Schweiz und die EU haben in Bern Verhandlungen über ein Rahmenabkommen aufgenommen», schrieb die SDA am 22. Mai 2014. «Wie lange diese dauern und wohin die Reise geht, ist ungewiss.» Fünf Jahre später sind die Verhandlungen zwar abgeschlossen, doch eine Einigung scheint weiter entfernt denn je: Die EU-Kommission unter ihrem Präsidenten Jean-Claude Juncker will bloss noch über Präzisierungen am Vertragsentwurf sprechen, in der Schweiz hingegen findet dieser nicht einmal im Bundesrat eine Mehrheit. Wie nur konnte diese Situation entstehen?

Die WOZ hat über diese Frage mit Beteiligten der Parteien, der Verbände und aus der Verwaltung gesprochen. Die meisten wollten sich nur im Off äussern, zu viel steht für sie taktisch auf dem Spiel. Aus den Gesprächen, den amtlichen Dokumenten und Medienberichten lässt sich aber eine Chronologie nachzeichnen, wie in der Schweiz ein innenpolitisches Zerwürfnis entstand – und wer es verantwortet.

I. Der Auftakt

18. Dezember 2013: Kurz vor Jahresende stellt der damalige FDP-Aussenminister Didier Burkhalter das Mandat für Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen vor. Es soll die fünf bilateralen Verträge umfassen, die den gegenseitigen Marktzugang zwischen der Schweiz und der EU regeln. Nachdem es ursprünglich ein Anliegen der Schweiz war, hat die EU in den letzten Jahren immer stärker auf ein solches Abkommen gedrängt: Sie ist mit der Auslegung der Verträge durch die Schweiz nicht immer einverstanden, etwa beim Lohnschutz. Mit dem Rahmenabkommen soll ein Mechanismus geschaffen werden, um Streitigkeiten über die Auslegung zu klären. Drei Themen sind vom Mandat ausgenommen: die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie sowie staatliche Beihilfen.

Hinter diesen drei sogenannten roten Linien stehen auch drei innenpolitische Vetomächte: Die Gewerkschaften wollen keine Einschränkung des Lohnschutzes, um die Personenfreizügigkeit nicht zu gefährden. Die Bürgerlichen wollen keine Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie, die EU-BürgerInnen Ansprüche auf Sozialleistungen garantiert. Und die Kantone möchten für den Service public weiterhin staatliche Beihilfen sprechen können.

Weil die SVP auf Fundamentalopposition macht, ist von Anfang an klar: Ein Abkommen gibt es nur mit den Linken, den Bürgerlichen und den Kantonen zusammen. Sprich, wenn keine der drei roten Linien überschritten wird.

II. Stillstand

9. Februar 2014: Fürs Erste bestimmt dennoch die SVP die Agenda. Ihre Initiative gegen eine angebliche Masseneinwanderung wird äusserst knapp angenommen. Damit ist die Personenfreizügigkeit, das wichtigste der fünf bilateralen Abkommen, infrage gestellt. Weil die politische Debatte von der Umsetzung der SVP-Initiative bestimmt ist, werden die Gespräche über ein Rahmenabkommen nur zögerlich aufgenommen.

14. Juni 2017: Drei lange Jahre vergehen, in denen in den Verhandlungen nach einem möglichen Mechanismus für die Streitbeilegung gesucht wird. Der herrschende Stillstand in den Beratungen wird durch häufige Personalwechsel bei der Verhandlungsleitung kaschiert. Nach Yves Rossier und Jacques de Watteville übernimmt Pascale Baeriswyl. Schliesslich tritt der zunehmend einsame Aussenminister Didier Burkhalter zurück.

20. September 2017: FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis wird dank der Stimmen der SVP zu Burkhalters Nachfolger gewählt. Der Tessiner hat vor seiner Wahl angekündigt, beim Rahmenabkommen den «Reset-Knopf» zu drücken.

18. Januar 2018: Die EU bringt die Idee eines paritätischen Schiedsgerichts zur Streitschlichtung ins Spiel. Sind sich die Schweiz und die EU nicht einig, können die Parteien dieses anrufen. Betrifft ein Streitpunkt EU-Recht, hat sich das Schiedsgericht an den Auslegungen des Europäischen Gerichtshofs zu orientieren. Damit scheint der Knackpunkt der ersten Verhandlungsjahre gelöst.

31. Januar 2018: Cassis findet den «Reset-Knopf» nur beim Personal: Er wechselt den Verhandlungsleiter aus, neu werden die Gespräche von Staatssekretär Roberto Balzaretti geleitet. Zur Überraschung insbesondere der SVP drückt Cassis aufs Tempo. Er verspricht einen Abschluss der Verhandlungen bis Ende des Jahres.

III. Über die Linie

7. Juni 2018: Die EU hat der Schweiz ein Angebot zur Frage des Lohnschutzes unterbreitet, wie es sich am Ende auch im Vertragsentwurf finden wird: Die Schweiz soll demnach die Entsenderichtlinie der EU übernehmen, in der der Lohnschutz weniger stark ausgestaltet ist. Die Flankierenden würden so auch dem EU-Gerichtshof unterstehen. Insbesondere die Anmeldefrist für ausländische Firmen soll verkürzt und die Kautionspflicht stark eingeschränkt werden.

Der Schweizer Chefunterhändler Roberto Balzaretti verspricht in einer Verhandlungsrunde, dass er die Frage der flankierenden Massnahmen auf die politische Ebene bringen werde, signalisiert also Gesprächsbereitschaft. Das bestätigen der WOZ mehrere Quellen, auch aus der Verhandlungsdelegation. Das Aussendepartement bestreitet die Darstellung.

12. Juni 2018: Ignazio Cassis sagt am Rand einer Veranstaltung der Generalbauunternehmer in Bern einem Reporter von SRF ins Mikrofon, man müsse beim Lohnschutz über «kreative Wege» nachdenken. Das Radiointerview findet eine hohe Beachtung. Wenn Balzaretti die Flankierenden tatsächlich auf die politische Ebene heben wollte, klingt Cassis’ Äusserung weniger unbedarft, als bisher angenommen wurde: Der Chefunterhändler und der FDP-Aussenminister versuchen offenbar, eine Schwächung des Lohnschutzes gemäss dem Vorschlag der EU nachträglich innenpolitisch zu legitimieren.

15. Juni 2018: Die Gewerkschaften reagieren alarmiert auf Cassis’ Äusserungen und fordern an einer Medienkonferenz die Nichtüberschreitung der roten Linien.

4. Juli 2018: Im Bundesrat laufen die FDP-Magistraten auf. Die Regierung schliesst die Flankierenden weiterhin von den Verhandlungen aus. Cassis und FDP-Wirtschaftsminister Schneider-Ammann sollen aber die Meinung der Sozialpartner einholen.

2. August 2018: Das Wirtschaftsdepartement lädt die Gewerkschaften, den Gewerbeverband und den Arbeitgeberverband zu Gesprächen ein. Gemäss der Einladung sollen sie eine technische Arbeitsgruppe einsetzen, die nach Lösungen bei den Flankierenden sucht. Schneider-Ammann schickt gleich einen Vorschlag mit: Er enthält mehr oder weniger die gleichen Ideen, wie sie bereits die EU gefordert hat.

8. August 2018: Paul Rechsteiner, Präsident des Gewerkschaftsbunds, gibt bekannt, dass die Gewerkschaften nicht an der Preisgabe der eigenen Position und des Lohnschutzes mitwirken und deshalb den Gesprächen fernbleiben werden.

IV. Die Kampagne

7. Dezember 2018: Der Bundesrat diskutiert über das vorläufige Verhandlungsergebnis. Er entscheidet, den Vertrag nicht zu paraphieren. Das würde bedeuten, den Vertragstext unter den Verhandlungspartnern vorläufig festzulegen. Stattdessen schickt der Bundesrat den Vertragstext ohne Botschaft oder weitere Erklärungen in eine öffentliche Konsultation. Die EU-Kommission betrachtet derweil die Verhandlungen als abgeschlossen.

1. Januar 2019: Die neu gewählten Bundesrätinnen Karin Keller-Sutter  (FDP) und Viola Amherd (CVP) treten offiziell ihr Amt an. Die beiden stehen dem Vertragstext skeptisch gegenüber. Sie ersetzen Johann Schneider-Ammann und Doris Leuthard, die ihn ganz oder in der Tendenz befürwortet hatten. Die BundesrätInnen von SP und SVP lehnen ihn in dieser Form ab. Im Bundesrat steht das Verhältnis gegen den Vertragsentwurf damit statt 4 : 3 neu 6 : 1. Ignazio Cassis ist isoliert.

11. Februar 2019: Die BefürworterInnen des Entwurfs melden sich in den Medien mit einer hohen Kadenz zu Wort. Den Auftakt macht der frühere Finanzminister und spätere UBS-Präsident Kaspar Villiger in der NZZ. Chefunterhändler Roberto Balzaretti wirbt in einem Tamedia-Interview für sein Abkommen und tritt an zahlreichen Veranstaltungen auf. Auch der Wirtschaftsverband Economiesuisse spricht von einem «guten Deal».

22. Februar 2019: Die FDP-Fraktion erhöht den Druck und beschliesst in Engelberg ein «Ja aus Vernunft» zum Rahmenvertrag. Es brauche jetzt nur noch Präzisierungen, keine Nachverhandlungen. Bei der SP hegt man seit längerem den Verdacht, dass die FDP mit dem Rahmenvertrag vor allem Wahlkampf macht, weil sie sich in einer Win-win-Situation befindet: Kommt der Vertrag durch, ist Cassis ein Held. Scheitern die Verhandlungen, kann man den Gewerkschaften und der SP die Schuld geben. Bei der FDP weist man solche Absichten weit von sich. Die CVP, häufig übersehen in der Auseinandersetzung, lehnt den Entwurf ab.

26. Februar 2019: Die GLP wiederum ist für ein Ja und nutzt die Debatte zur Profilierung. Kurz vor den Zürcher Kantonsratswahlen inszeniert sie den Wechsel von Chantal Galladé von der SP zu den Grünliberalen als parteipolitisches Fanal: Viele WählerInnen seien wie Galladé mit der Europapolitik der Partei unzufrieden.*

5. März 2019: Mit der Formel «Ja zum Rahmenabkommen, Ja zum Lohnschutz» hält die SP-Fraktion dem Druck stand und erzielt bei den Zürcher Wahlen ein respektables Ergebnis.

V. Die Zuspitzung

15. März 2019: Karin Keller-Sutter kündigt an einer Medienkonferenz an, dass die Bekämpfung der SVP-Initiative gegen die Personenfreizügigkeit oberste Priorität hat. Der Bundesrat scheint damit nach einer langen Phase der Orientierungslosigkeit wieder über eine Strategie zu verfügen.

7. Juni 2019: Nach dem Ende der Konsultation teilt der Bundesrat in einem Brief an die EU mit, dass gemeinsame Klärungen nötig seien. Sie betreffen noch immer die gleichen Punkte wie vor fünf Jahren: den Lohnschutz, die Unionsbürgerrichtlinie, die staatlichen Beihilfen. Postwendend fordert EU-Kommissionspräsident Juncker von der Schweiz eine Klärung innert weniger Tage. Diese bleibt aus.

18. Juni 2019: Um Druck zu machen, verweigert die EU-Kommission der Schweiz fürs Erste die gleichwertige Anerkennung der Börsengesetze.

VI. Und jetzt?

Im Überblick der letzten fünf Jahre zeigt sich vor allem, wie viel Zeit die Schweiz in den Verhandlungen über ein Rahmenabkommen verspielt hat. Erst brachte sie die SVP-Initiative in Rückstand. Dann interessierte sich in den langen Jahren unter Didier Burkhalter kaum jemand für das Abkommen, bis er selbst am Horizont verschwand. Und schliesslich verspielten Ignazio Cassis und sein Chefunterhändler Roberto Balzaretti ein ganzes Jahr und noch viel mehr Vertrauen mit ihrem Angriff auf die flankierenden Massnahmen.

Für die Zukunft bleiben mehrere Varianten: So können der Bundesrat oder das Parlament den Vertragsentwurf ablehnen, was noch lange nicht heissen würde, dass die Schweiz keinen Rahmenvertrag will. Um doch noch eine Annahme zu erreichen, können sie auf Nachverhandlungen pochen, wie das Motionen im Parlament verlangen. Die EU lehnt solche derzeit kategorisch ab. Schliesslich sind Präzisierungen denkbar. Angesichts der fundamentalen Fragen, um die es beim Lohnschutz geht, werden Lösungen, wenn überhaupt, kaum kurzfristig zu finden sein. Zudem bergen sie das Risiko einer Spaltung der Linken.

Oder es bleibt die Geduld: Die Kräfteverhältnisse in der EU nach dem Ende der Ära Juncker sind offen. Gewonnen haben bei der Europawahl auch progressive Kräfte wie die Grünen. Bereits am 26. März 2019 reichten sie einen Vorstoss im Europaparlament ein. Sie wollten damit der Schweiz ihren vorbildhaften Lohnschutz garantieren. Der Antrag scheiterte nur knapp.

* Korrigendum vom 20. Juni 2019: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion steht fälschlicherweise dass Chantal Galladé von den Grünliberalen zur SP gewechselt hat. Richtig ist, dass Chantal Galladé von der SP zu den Grünliberalen gewechselt hat.