Widerstand in Hongkong: «Was haben wir denn schon erreicht?»

Nr. 25 –

Hunderttausende sind in Hongkong auf die Strasse gegangen, um gegen ein geplantes Auslieferungsgesetz zu protestieren. Der Aktivist Fok Ling-fung erläutert, warum er sich an den Demonstrationen beteiligt hat – und warum er den jüngsten Zugeständnissen der Regierungschefin Carrie Lam nicht traut.

WOZ: Fok Ling-fung, Sie sind mit Hunderttausenden anderen auf der Strasse marschiert. Wie würden Sie die Stimmung der Demonstranten beschreiben?
Fok Ling-fung: Die vorherrschende Emotion war Zorn, Wut.

Noch vor wenigen Wochen schien die Protestbewegung Hongkongs geschwächt. Schliesslich werden noch immer Studentenführer und Aktivistinnen der Regenschirmbewegung aus dem Jahr 2014 strafrechtlich verfolgt. Dann brachte ein geplantes Gesetz, das die Auslieferung von Kriminellen nach China ermöglichen sollte, so viele Hongkonger auf die Strasse wie zuletzt bei der Übergabe der britischen Kolonie an China 1997. Was hat diesen Aufschrei ausgelöst?
Über die vergangenen Wochen hinweg haben Leute aus den verschiedensten Milieus – Anwälte zum Beispiel, aber auch Sozialaktivisten – hinreichend dargelegt, dass das geplante Auslieferungsgesetz auch den Durchschnittsbürger Hongkongs treffen würde. Denn auch wenn Regierungschefin Carrie Lam zugesichert hat, dass Menschenrechtsstandards eingehalten werden, hat das geplante Gesetz Schlupflöcher. Schauen wir nur nach China: Dort werden Oppositionelle oftmals nicht wegen ihrer politischen Aktivitäten verurteilt, sondern aufgrund lediglich vorgeschobener Vergehen – Steuerdelikten oder Ähnlichem. Das bedeutet: Wenn sie wollen, können sie dich immer noch kriegen. Deswegen sind die Leute in Hongkong besorgt.

Haben auch Sie persönlich Angst?
Ja, natürlich: ernsthafte Angst – und zwar wegen meines politischen Engagements. Dabei bin ich eigentlich nur ein normaler Bürger, der sich politisch betätigt. Als Erstes würden sicherlich die Kernmitglieder der Protestbewegungen nach China ausgeliefert – die Aktivisten und Rechtsanwälte, die ihre Überzeugungen öffentlich vor den Fernsehkameras kundtun. Als Nächstes jedoch wären wir dran. Bereits seit Jahren vermeide ich es, nach Festlandchina zu gehen. Meine Reisegenehmigung für den Grenzübertritt ist längst abgelaufen. Erneuern werde ich sie aber nicht, denn es könnte mir jederzeit etwas widerfahren.

Verglichen mit den Regenschirmprotesten, die von Studentenaktivisten angeführt wurden, genossen die jüngsten Proteste einen breiteren Rückhalt: Leute aller Altersgruppen und Schichten kamen zusammen.
Ja, und das hat vor allem einen Grund: die Angst vor der Kommunistischen Partei Chinas. Zu Beginn der chinesisch-britischen Erklärung 1984, die die Zukunft Hongkongs klären sollte, wurde uns ja de facto alles versprochen: Hongkong werde die nächsten sechzig Jahre unverändert bleiben. Aber das geplante Auslieferungsgesetz erschüttert die rechtliche Grundlage Hongkongs. Wir befürchten, dass Hongkong viel früher als geplant zu China gehören wird.

Das «Ein Land, zwei Systeme»-Modell wird im Jahr 2047 auslaufen. Ist der Kampf der Protestbewegung also nur einer auf Zeit?
Wir tun zumindest unser Mögliches, dass China diese Frist der Assimilation Hongkongs nicht weiter nach vorne verschiebt. Hongkong könnte schon bald eine gewöhnliche chinesische Stadt werden – wie etwa Schanghai. Wir wollen das bis 2047 hinauszögern. Es ist natürlich ein Akt der Verzweiflung. Denn letztlich geht es darum, die Zeit zurückzugewinnen, die uns versprochen wurde. China will uns diese Zeit stehlen.

Trägt Grossbritannien eine moralische Verantwortung gegenüber der Protestbewegung, die es nicht ausreichend wahrnimmt?
London ist derzeit mit dem Brexit sicherlich beschäftigt genug. Aber natürlich: Als Hongkonger, der unter der britischen Regierung aufgewachsen ist, würde ich mir von Grossbritannien ein gewisses Verantwortungsbewusstsein wünschen, sich für unsere Belange auszusprechen. Viele meiner Freunde und Bekannten haben einen britischen Reisepass, der schon bald auslaufen wird. Doch wenn die Kommunistische Partei Hongkong übernimmt, dann wäre mein Anliegen, dass wir einen sicheren Zufluchtsort haben: nicht nur England, sondern auch andere Commonwealth-Staaten, etwa Kanada oder Australien.

Denken Sie darüber nach auszuwandern?
Ich bin definitiv nicht glücklich in Hongkong. Aber aus familiären Gründen werde ich es nicht tun. Einige meiner Freunde denken daran, ins freie Taiwan zu ziehen. Ich jedoch glaube, dass auch Taiwan bald zu einem weiteren Hongkong wird, das allmählich von China absorbiert wird.

Zumindest laut einer Studie der Chinesischen Universität Hongkong würden 36 Prozent der Bevölkerung auswandern, wenn sie die Chance dazu hätten. Wieso?
Das hat vielfältige Gründe: Die Wohnungspreise sind horrend, wir müssen auf extrem beengtem Raum leben. Doch Hongkonger haben schon immer eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit bewiesen. Was uns allerdings wirklich Sorge macht, ist die politische Zukunft. Das gilt vor allem für diejenigen, die Kinder haben: Werden die eine freie Bildung geniessen können oder nicht? Ich schätze, die Hälfte aller Hongkonger, die auswandern wollen, möchten dies aus politischen Gründen tun.

Kommen wir noch mal auf die Proteste zu sprechen. Es kam dabei zu brutalen Szenen: Demonstranten haben sich mit der Polizei regelrechte Strassenschlachten geliefert.
Beide Seiten haben Gewalt ausgeübt – aber auf unterschiedlichem Niveau. Schauen Sie sich die Tausende Videos an: Die Demonstranten haben Flaschen geworfen, Helme und Stahlzäune. Die Polizeikräfte hingegen verfügen über Gummigeschosse, sie haben Tränengas und sind taktisch geschult. Klar argumentieren einige, dass die Polizei erst aufgrund der Gewalt der Demonstranten so brutal gehandelt habe. Ich kann diese Logik jedoch nicht nachvollziehen.

Die Demonstranten haben einen Erfolg erzielt: Am Dienstag ist Hongkongs Regierungschefin vor die Kameras getreten und hat sich entschuldigt. Das Auslieferungsgesetz, gegen das am Sonntag zwei Millionen Hongkonger auf die Strasse zogen, hat sie auf unbestimmte Zeit zurückgezogen.
Es ist kompliziert. Als wir Carrie Lams Gesicht gesehen haben, waren die meisten von uns irritiert. Sie hat sich zwar entschuldigt, doch für mich wirkte es wie ein Spiel: als hätte sie den ganzen Morgen über ihre Rede einstudiert, um sich dann am Nachmittag vor der Bevölkerung zu entschuldigen.

Dennoch scheint das Auslieferungsgesetz zunächst abgewendet. Kann die Stadt also wieder zum Alltag zurückkehren?
Nein, das denke ich nicht. Was haben wir denn schon erreicht? Ich stimme mit den fünf Forderungen der Civil Human Rights Front überein, die die Proteste organisiert hat. In diesen wird verlangt, dass das Auslieferungsgesetz vollständig zurückgezogen wird. Zudem sollen die Demonstranten nicht angeklagt und die Proteste nicht weiter als «Aufruhr» bezeichnet werden. Ebenfalls müssen die Verantwortlichen für die Polizeigewalt ausfindig gemacht werden. Und Verwaltungschefin Carrie Lam muss zurücktreten. Nichts davon ist bislang eingetreten.

Fok Ling-fung

Glauben Sie, dass Lam zurücktreten wird?
Manche Hongkonger geben sich mit ihrer Entschuldigung zufrieden. Aber besonders für die Jugend ist das nicht genug. Dass sie allerdings tatsächlich zurücktreten wird, ist sehr unwahrscheinlich. Lam geniesst die Unterstützung der chinesischen Regierung. Und selbst wenn sie zurücktreten wollte – etwa um mit ihrer Familie nach England in den Ruhestand zu gehen –, könnte sich Beijing dagegen stemmen. Denn es würde dann erneut ein Vakuum entstehen – und die Bevölkerung Hongkongs könnte erneut auf die Strasse ziehen und universelle Menschenrechte einfordern. Dann hätten wir dieselbe Situation wie bei den Regenschirmprotesten im Jahr 2014.

Sozialarbeiter und Aktivist

Fok Ling-fung (33) ist Sozialarbeiter in Hongkong und Mitorganisator der AktivistInnengruppe Reclaiming Social Work Movement. Fok hat sich während der Regenschirmbewegung im Jahr 2014 politisiert. Auch bei den jüngsten Protesten um das geplante Auslieferungsgesetz stand der Hongkonger auf der Seite der DemonstrantInnen.