Brexit-Politik: Verschlungene britische Sackgassen

Nr. 29 –

Nächste Woche wird Exaussenminister Boris Johnson aller Voraussicht nach zum Premierminister Grossbritanniens gewählt. Dass er einen Ausweg aus dem Brexit-Chaos findet, ist fraglich. Aber auch für die Opposition würde es schwierig, von seinem Scheitern zu profitieren.

«Beantworte die verdammte Frage!», schreit einer laut aus dem Publikum, als Boris Johnson sich während einer Wahlveranstaltung mal wieder um eine Antwort windet. Der Kandidat zieht die Augenbrauen hoch. Er wirkt aus der Fassung gebracht, so was ist er nicht gewohnt: Man mag Johnson, obwohl mittlerweile allen klar sein muss, dass der Mann, der mit grosser Wahrscheinlichkeit nächste Woche zum Premierminister erklärt wird, unehrlich, unseriös und von der Politik überfordert ist.

Die Kampagne um den Tory-Vorsitz – und damit die Besetzung des Premierministeramts – hat reichlich Material geliefert, um diese Tatsache zu untermauern. Die Wahlkampfauftritte des Spitzenreiters sind die typische Boris-Show: unterhaltsam, aber denkbar leer an Inhalten. Schwierigen Fragen weicht der Kandidat aus, wenn möglich mit einem Witz; und wenn er sich nicht um eine Antwort drücken kann, dann behilft er sich mit beeindruckenden Behauptungen, die sich bei näherem Hinschauen als kaum mehr als Fantasiegebilde herausstellen. Vergangene Woche musste er sich von einem BBC-Journalisten erklären lassen, weshalb sein Plan für einen No-Deal-Brexit nicht aufgehen würde: Johnson kannte wohl Paragraf 5b von Artikel 24 des Gatt-Abkommens (des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens zwischen 123 Ländern), nicht aber dessen Paragrafen 5c, laut dem eine Übernahme von Gatt-Regeln vom Handelspartner EU akzeptiert werden müsste. Ein Mann fürs Detail war Johnson noch nie.

Notlösung Neuwahlen

Im Wahlkampf spielen technische Einzelheiten aber keine Rolle. Da geht es darum, wer rhetorisch besser rüberkommt, wer die Vorzüge des EU-Austritts und die Grösse Grossbritanniens eingehender beschwört und wer die Leute besser zum Lachen bringt. Das kann Johnson ganz gut, und deshalb wird er nächste Woche wohl in 10 Downing Street einziehen. Schliesslich muss er dafür nicht die 45 Millionen stimmberechtigten BritInnen für sich gewinnen, sondern lediglich eine Mehrheit der 160 000 registrierten Tories – und die sind überwiegend weiss, alt, männlich und Brexit-begeistert.

Dann aber werden die Probleme für Boris Johnson erst beginnen. Sein Brexit-Plan verspricht, erneut mit der EU zu verhandeln und Theresa Mays verhassten Deal abzuändern. Nur hat die EU mehrmals signalisiert, dass sie dazu auf keinen Fall bereit ist. Der No-Deal-Brexit, das weiss auch Johnson, ist ein erhebliches wirtschaftliches Risiko, und zudem sucht das überwiegend EU-freundliche Parlament nach Möglichkeiten, einen solchen Ausgang zu blockieren. Wenn also Johnson mit seinen Verhandlungen scheitert und das Land erneut auf einen chaotischen Brexit zusteuert, ist die ganz grosse Regierungskrise da. Neuwahlen wären die Notlösung.

In einem Bericht in der «Financial Times» werden mehrere konservative Parlamentsmitglieder zitiert, laut denen sich die Partei auf genau dieses Szenario vorbereitet. Die Rhetorik Johnsons und seines Rivalen Jeremy Hunt im Wahlkampf lassen dies plausibel erscheinen: Beide nehmen regelmässig die Opposition aufs Korn und beschreiben eine mögliche Labour-Regierung unter dem Parteivorsitzenden und «gefährlichen Marxisten» Jeremy Corbyn als nationale Katastrophe, die es unter allen Umständen abzuwenden gelte.

Gegen einen eigenen Deal?

Auch Labour scheint sich auf eine vorgezogene Neuwahl vorzubereiten. Zumindest könnte dies erklären, weshalb die Opposition auf eine neue Brexit-Politik umgeschwenkt ist: Seit Monaten nähert sich die Parteiführung langsam einem zweiten Referendum an. Vergangene Woche schliesslich hat sie sich zur Position durchgerungen, dass jeder Deal dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden müsse – und dass Labour sich für «Remain» starkmachen würde. Das geschah im Einvernehmen mit den grössten Gewerkschaften und erfolgte unter starkem Druck der proeuropäischen Parteibasis. Der Aufstieg der rechtsnationalistischen Brexit Party wie auch das drohende No-Deal-Szenario haben Corbyn fast keine Wahl gelassen, als diese Position einzunehmen. Sie hat den Vorteil, dass Labours Brexit-Strategie jetzt einfacher zu erklären ist als die Uneindeutigkeit, in der die Partei bislang auftrat. Auch können sich die Labour-AktivistInnen nunmehr mit Enthusiasmus in den Wahlkampf stürzen.

Doch während die Position von Labour für eine Wahlkampagne geeignet sein mag, könnte sie problematisch werden, sobald Corbyn einen Urnengang gewinnen sollte. Denn noch immer will die Parteiführung einen neuen Deal mit Brüssel aushandeln – einen Deal, der Jobs, Arbeits- und Umweltstandards sichere, wie Labour sagt. Aber wie ist das mit der Verpflichtung zu vereinen, sich in einem zweiten Referendum für «Remain» zu engagieren? Würde Labour einen neuen Vertrag mit der EU aushandeln, nur um danach dagegen zu kämpfen? Logischer wäre, dass die Partei den Brexit-Prozess erst einmal aussetzt, also den Austrittsartikel rückgängig macht.

Angesichts des demokratischen Votums vor drei Jahren wäre dies ein riskanter Schritt. Er könnte nur funktionieren, wenn sich die Labour-BasisaktivistInnen wieder mobilisieren liessen: Sie müssten in die Kommunen gehen, die für den Brexit stimmten, insbesondere in den Midlands und im Norden Englands, und den WählerInnen darlegen, was eine Labour-Regierung tun würde: wie sie die Wohnungsnot lindern, bessere Jobs bieten, das soziale Auffangnetz wiederaufbauen, für Investitionen sorgen will. Denn Labour muss jetzt einen Weg aufzeigen, der nicht einfach in die Zeit vor dem EU-Referendum zurückführt.