E-Collecting: Mit neuen Hürden «Volksrechte stärken»?

Nr. 32 –

Die wirtschaftsliberale Denkfabrik Avenir Suisse tischt in einer neuen Studie zur digitalen Demokratie alte Ideen im neuen Kleid auf.

E-Collecting ist bei Kampagnen bereits heute möglich. Für Initiativen will Avenir Suisse die Mindestzahl der erforderlichen Unterschriften verdreifachen. FOTO: URSULA HÄNE

Für eine Volksinitiative sollen zukünftig 300 000 Unterschriften nötig sein. Das zumindest fordert der wirtschaftsliberale Thinktank Avenir Suisse in einer letzte Woche veröffentlichten Studie zur Digitalisierung der Demokratie. Darin wird ein «Baukasten von Ideen für die Weiterentwicklung der direkten Demokratie» vorgestellt, wie Koautor Matthias Ammann der WOZ erklärt. Gleichzeitig soll die Studie eine «nüchterne Abwägung» über das Potenzial digitaler Technologien liefern – insbesondere von digitaler Unterschriftensammlung, öffentlichem Politdiskurs in der digitalen Sphäre und E-Voting.

Mit dem sogenannten E-Collecting will Avenir Suisse die Volksrechte stärken und Hürden abbauen. «Die aktive Partizipation der Zivilgesellschaft ist im politischen System explizit vorgesehen und soll durch die Digitalisierung vereinfacht werden», schreiben Matthias Ammann und Fabian Schnell. Dafür brauche es gesetzliche und technische Voraussetzungen – zum Beispiel eine Kopplung an die umstrittene E-ID (siehe WOZ Nr. 11/19 ). Gleichzeitig schlagen die Autoren mit der Erhöhung der benötigten Unterschriftenzahl eine neue Hürde vor, die bloss für digitale Sammelkanäle gelten würde. «Diese Erhöhung darf nicht als Erschwernis verstanden werden», rechtfertigt sich Ammann. «E-Collecting erleichtert den Prozess des Unterschriftensammelns. Demgegenüber ist die heute übliche, persönliche Unterschriftensammlung ein sehr ressourcenintensives Unterfangen.» Damit die Ausgangslage bei beiden Methoden ähnlich ist, sollen Initiativen, die auf den digitalen Weg setzen, dreimal so viele Unterschriften benötigen.

Mehr Demokratie – oder weniger?

Es ist freilich nicht der erste Versuch von Avenir Suisse, die Hürden für Initiativen und Referenden zu erhöhen. Bereits 2015 forderte der Thinktank eine generelle Erhöhung auf 200 000 Unterschriften sowie eine Beschränkung auf eine Initiative pro Abstimmungstag, um «eine seriöse politische Debatte zu erleichtern». Ein ähnliches Argument soll es nun auch beim E-Collecting richten. Es sei ein Anstieg von Initiativen und Abstimmungen zu befürchten, wenn online mit geringerem Aufwand Unterschriften gesammelt werden könnten. Das erschwere «potenziell einen vertieften Meinungsbildungsprozess in der Öffentlichkeit».

Führt die Digitalisierung also zu einer «Initiativenflut» und einer Überforderung der Stimmbevölkerung? Für Daniel Graf, Mitgründer der Plattform Wecollect, ist diese Begründung vorgeschoben. «Der Vorschlag ist kalter Kaffee. Avenir Suisse provoziert seit Jahren mit der Forderung, die Unterschriftenzahlen massiv zu erhöhen. E-Collecting ist so gesehen nur ein Vorwand, um die bestehenden hohen Hürden für Initiativen und Referenden anzuheben.» Zwar stellt sich Graf nicht grundsätzlich gegen eine Erhöhung der benötigten Unterschriftenzahl. Zuerst müsste aber das längst überfällige E-Collecting gesetzlich und technisch umgesetzt und dessen Auswirkungen müssten beobachtet werden.

Auch vor der heraufbeschworenen Überforderung fürchtet sich Graf nicht. Im Gegenteil: Man müsse mehr Demokratie wagen und den Einfluss der Stimmbevölkerung dank E-Collecting vergrössern. «Dafür muss die Partizipation gestärkt werden», glaubt Graf. «Dazu zählt das Agendasetting von unten mit Initiativen und Referenden. Von einer Überhitzung oder gar einem Kollaps der direkten Demokratie warnen diejenigen am lautesten, die selbst nie Unterschriften sammeln, sondern auf Lobbying setzen.» Die Tatsache, dass die Stimmbeteiligung seit der Jahrtausendwende leicht gestiegen ist, deutet ebenfalls nicht auf eine Überforderung hin.

Anachronismus beim E-Voting

Eine denkwürdige Position nehmen die Autoren auch hinsichtlich der viel diskutierten Möglichkeit des elektronischen Abstimmens ein. Erst kürzlich hat der Bundesrat hier einen Marschhalt beschlossen (siehe WOZ Nr. 28/19 ). Trotzdem glaubt man bei Avenir Suisse an das Potenzial von E-Voting und träumt bereits von neuartigen digitalen Abstimmungstechniken, mit denen «die komplexe Erfassung von Präferenzen» möglich würde.

Ist das angesichts der politischen Entwicklungen nicht überholt? Matthias Ammann verneint das und verweist auf die über 300 erfolgreich durchgeführten Abstimmungen, bei denen in verschiedenen Kantonen E-Voting im Einsatz war. Auch hätten sich viele Kantone im Vernehmlassungsverfahren für eine Einführung ausgesprochen: «So gesehen ist der derzeitige politische Entscheidungsstillstand, wenn es um die Weiterentwicklung hin zur digitalen Demokratie geht, anachronistisch.»

Kein Wunder, wird auch scharf gegen ein mögliches E-Voting-Moratorium geschossen. Solche «Denkverbote» seien abzulehnen. Die Autoren argumentieren, dass elektronisches Abstimmen eine ungültige Stimmabgabe verunmögliche und alle Abstimmenden sicherstellen könnten, dass ihre Stimme richtig im System angekommen sei. Die in den letzten Monaten entdeckten schwerwiegenden Sicherheitslücken fallen in der Studie unter den Tisch. Stattdessen bemängeln die Autoren, dass sich die Diskussion «mehrheitlich um die Möglichkeit einer Manipulation» drehe. Angesichts des möglichen immensen Vertrauensverlusts ist Skepsis allerdings angebracht.