SBB-Krise: Die andere Seite der Pünktlichkeit

Nr. 34 –

Der Tod eines Zugbegleiters wegen einer defekten Wagentür weist nicht nur auf technische Probleme hin. Der Vorfall wirft auch ein Licht auf einen rasanten Kulturwandel bei den Bundesbahnen – und auf eine grössere Vertrauenskrise.

Bei den SBB liegen die Nerven blank – auch in der Belegschaft: Zugbegleiterin im Zürcher Hauptbahnhof. Foto: Florian Bachmann

Kommt er, oder kommt er nicht? Am Montag kreuzte Andreas Meyer dann doch noch im Bundeshaus auf: Für die Sitzung der ständerätlichen Verkehrskommission war ursprünglich nur der Güterverkehr traktandiert. Jetzt aber, wo es bei den SBB um grössere Probleme geht, erwartete man Red und Antwort vom Chef persönlich.

Zuerst die Verspätungen und Pannen. Und dann der tödliche Unfall eines Zugbegleiters am 4. August in Baden: Die SBB-Konzernleitung steht in einem schlechten Licht. Auch die «Sofortmassnahmen» nach dem Unfall vermögen viele nicht zu beruhigen. Denn anders als in den Nachbarländern soll der Abfahrbefehl trotzdem weiterhin erteilt werden, bevor alle Türen geschlossen sind – und nicht erst danach, wie es die Gewerkschaft des Verkehrspersonals (SEV) fordert.

Wie gestört das Verhältnis zwischen den Sozialpartnern ist, zeigen Äusserungen beider Seiten. So liess sich Linus Looser, Leiter Bahnproduktion SBB, auf dem Lokalsender Tele M1 dazu hinreissen, den ZugbegleiterInnen vorzuwerfen, sich nicht korrekt an den Abfertigungsprozess zu halten. Derweil konnte es der SEV nicht lassen, noch vor der Beerdigung des Kollegen eine Beteiligung der MitarbeiterInnen am Vorjahresgewinn zu fordern.

Die Nerven liegen blank. Auch in der Belegschaft. «Der Unfall hat das Ganze akzentuiert und nach aussen getragen. Doch die Stimmung ist zum Teil schon seit Jahren schlecht», sagt SEV-Präsident Giorgio Tuti und verweist auf eine Personalumfrage vom letzten Jahr: Schon damals war das Vertrauen in die Konzernleitung nicht gut.

Noch sind die Untersuchungen des Unfalls durch die unabhängige Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle nicht abgeschlossen. Bislang steht fest: Ein Arm des Zugbegleiters wurde bei der Anfahrt eingeklemmt. Erste Untersuchungen an der Tür haben entsprechende Defekte und «versteckte Mängel» ergeben. Bei 20 von 1000 bisher nachkontrollierten Türen des Wagentyps EW IV soll der Einklemmschutz nicht funktionieren. «Türen, bei denen ein Mangel festgestellt wird, werden umgehend instandgesetzt, oder sie werden gesperrt und als defekt gekennzeichnet», teilen die SBB mit.

Zeitfenster werden immer enger

Mit SBB-Angestellten zu reden, ist schwierig in diesen Tagen. Darüber, wie sich die Bedingungen in den letzten Jahren verändert haben, wissen EisenbahnerInnen zu berichten, die inzwischen pensioniert sind.

Beat Jurt war ab 1986 dreissig Jahre im technischen Wagendienst und viele Jahre SEV-Sektionspräsident der Wagenvisiteure. Zu einem ersten grossen Bruch, so Jurt, sei es 1999 gekommen, als die SBB in eine öffentlich-rechtliche Aktiengesellschaft ausgegliedert wurden: «Mit der Aufteilung in die Departemente Personenverkehr, Güterverkehr und Infrastruktur wurde die Familie auseinandergerissen. Von da an meinte man, man könne den Betrieb so führen wie in der Privatindustrie.»

So habe man etwa im Unterhalt immer mehr QuereinsteigerInnen eingestellt. Da beim kostspieligen Unterhalt keine Einnahmen zu erzielen sind, sei er besonders durch Sparpläne gefährdet. «Die Zeitfenster in der Wartung wurden schon in meiner Zeit immer enger – immer mehr Wagentüren mussten zugeklebt werden», sagt Jurt. «Der Unfall in Baden wäre vermeidbar gewesen, wenn man am Morgen Zeit gehabt hätte, die Türen sorgfältig zu prüfen», glaubt er. «Dann hätte man diese Tür gesperrt und gesichert.»

Aber auch der Beruf der ZugbegleiterInnen ist im Wandel. Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember 2018 heissen sie «KundenbegleiterInnen». «Durch die Elektronisierung wurden viele sicherheitstechnische Aufgaben zugunsten der Kundenorientierung zurückgestellt», erklärt Andreas Menet, Präsident des Zugpersonalverbands. Zudem sind ZugbegleiterInnen aus dem Regional- und aus dem Fernverkehr zusammengeführt worden. Die Idee der SBB: das Personal dort einzusetzen, wo es gerade gebraucht wird.

«Im Personalverband stellten wir uns auf der einen Seite die Frage: Ist es schlau, das ganze Berufsbild über den Haufen zu werfen? Und andererseits: Was bleiben uns ohne diese Änderungen überhaupt noch für Aufgaben?», sagt Menet, der seit 1981 als Zugbegleiter arbeitet. «Nach intensiven Diskussionen haben wir uns entschieden: Wir machen mit.»

Doch das «Unwohlsein» (Menet) bleibt. Und noch ein Problem ist dazugekommen: Arbeiteten bis Dezember 2018 in allen Zügen mindestens zwei ZugbegleiterInnen, so haben heute viele Züge nur noch eineN KundenbegleiterIn. Vom Personal wird seither immer wieder gefordert, in jedem Zug mindestens zu zweit zu sein – zumal es durch kurzfristige Absenzen vorkommen kann, dass man selbst auf grossen Zügen plötzlich allein dasteht. «Sie müssen sich das so vorstellen», sagt Menet: «Sie sind allein – und werden in einem Zug mit 800 Fahrgästen mit einer Störung konfrontiert. Das ist ein Riesenstress.»

Immerhin eine Forderung haben die SBB akzeptiert: Ab 22 Uhr und in «kritischen» Zügen, insbesondere an Wochenenden, müssen mindestens zwei KundenbegleiterInnen mitfahren. Mehr von ihnen braucht es überdies vor allem auf stark frequentierten Teilstrecken – das alles vor dem Hintergrund, dass der Reise- und der PendlerInnenverkehr stark zugenommen haben. Klar sei, so Menet: «Der Plan der SBB, mit weniger Leuten alles abzudecken, hat sich als nicht machbar erwiesen.»

Erschwerend kam in den letzten Monaten hinzu, dass die Einsatzplanung nach der Einführung eines neuen elektronischen Tools nicht mehr funktionierte, wodurch es immer wieder zu Verspätungen kam. Laut Jürg Hurni vom SEV ist das Problem mehr oder weniger behoben – allerdings mit einem hohen Mehrkostenaufwand. Noch immer akut seien Probleme beim Melden von Störungen: Oft erhielten die Mitarbeiter keine Rückmeldung. Was zuweilen dazu führe, dass eine Kundenbegleiterin feststellen müsse, dass der Wagen, den sie Tage zuvor als defekt gemeldet habe, noch immer im Verkehr sei.

Permanente Reorganisation

Angesprochen auf die Situation im Unterhalt, schreibt die Pressestelle der SBB, dass der Personalbestand in diesem Bereich «aufgrund der technologischen Entwicklung kontinuierlich ausgebaut» worden sei. Manuel Avallone, Vizepräsident des SEV, sagt dagegen: «Dass es Bereiche gibt, wo es an Personal mangelt, ist offensichtlich, besonders akut bei den Lokführern.» Dass der Notstand nicht noch grösser ist, ist dem seit diesem Mai gültigen neuen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) zu verdanken, den der SEV im vergangenen Jahr erkämpfte. Wäre es nach der Konzernleitung gegangen, so wären auch der Kündigungsschutz für ältere Angestellte aufgeweicht, Treueprämien verschlechtert und Ferientage reduziert worden.

Die Personalnot vergrössert haben insbesondere die Sparprogramme unter dem Titel «Railfit 20/30», die die SBB 2016 aufgrund von Vorschlägen der Unternehmensberatung McKinsey beschlossen hatten. Diese müssen nun immerhin GAV-konform umgesetzt werden. Inzwischen hat sich allerdings gezeigt, dass bestimmte Arbeiten an Temporärangestellte übertragen werden, deren Anstellungen nicht den GAV-Bestimmungen unterliegen. Rund 1400 Stellen sollen im Rahmen von Railfit 20/30 bis 2020 gestrichen werden. Insgesamt wollen die SBB die Kosten gegenüber 2015 um 1,2 Milliarden Franken senken, 470 Millionen Franken davon sollen beim Personal eingespart werden.

SEV-Präsident Tuti sieht ein weiteres Problem in den ständigen Reorganisationen: «Eisenbahner haben einen grossen Berufsstolz und wollen einen guten Service public machen. So aber klinken viele aus.» Als Beispiel nennt er die Einführung von Kompetenzstufen («Levels») im Bereich Unterhalt: «Das Ergebnis davon war, dass in den höchsten Levels geeignete Leute fehlten – und in den untersten qualifizierte Berufsleute kündigten.» Besonders stossend sei, dass solche Programme durchgesetzt würden, ohne dass die Meinung der MitarbeiterInnen berücksichtigt werde, sagt Tuti: «Mit der fehlenden Wertschätzung wird die Verbundenheit der Mitarbeiter mit den SBB allmählich zerstört.» Es gehe nicht darum, technologische Fortschritte zu blockieren, betont Tuti: «Aber dabei müssen immer auch die Menschen ernst und mitgenommen werden.»

Noch diese Woche ist ein Treffen des SEV mit Toni Häne, dem Personenverkehrschef der SBB, geplant. Dabei geht es zunächst um den Abfahrprozess. «Am sichersten wäre es, wenn immer alle, inklusive Zugbegleiter, im Zug sein müssten, bevor der Abfahrbefehl erteilt wird», sagt Manuel Avallone. «Auch wenn die Pünktlichkeit darunter leidet. Die Sicherheit der Mitarbeitenden hat hier oberste Priorität.»