Aufstand in Algerien: Arbeiten an der Annäherung

Nr. 38 –

In Algerien gehen die Menschen seit Monaten gegen das Regime auf die Strassen. Doch wie stehen die Chancen auf echten politischen Wandel? Ein Freitagnachmittag mit der Protestbewegung.

Trotz Hitze und drückender Luftfeuchtigkeit strömen auch an diesem Freitagmittag im Spätaugust Tausende Menschen auf den Platz des 1. November in der westalgerischen Küstenstadt Oran. Der Platz ist der traditionelle Versammlungsort der allwöchentlichen Freitagsdemonstrationen. Seit Februar ist er mit seinem opulenten Rathaus und den beiden anmutig emporragenden Löwenstatuen wesentlicher Teil der Kulisse der Bewegung.

Eingewickelt in eine algerische Nationalflagge und die bunte Fahne der Amazigh-Minderheit, ist wie jeden Freitag auch Fatma Boufenik dabei. Ausgerüstet mit einem Selfie-stick und einer Flasche Wasser, begrüsst die Mittfünfzigerin im Minutentakt Menschen, mit denen sie in den letzten Monaten an den unzähligen Protestaktionen Bekanntschaft gemacht hat. Man lerne sich zwangsläufig kennen, schliesslich treffe man sich ständig wieder, sagt Boufenik schmunzelnd.

Für individuelle Freiheiten

Lauthals Parolen gegen das Regime und für einen echten politischen Wandel skandierend, setzt sich die langsam anwachsende Menge in Bewegung und zieht durch Orans Stadtzentrum. Als sie am Sitz der Regionalregierung angekommen ist, wird klar: Die Proteste haben wieder Rückenwind. «Heute sind fast doppelt so viele Menschen dabei wie letzte Woche», sagt Boufenik und zeigt auf die Menge. «Es ist völlig normal, dass die Mobilisierung zuletzt schwächer war – wir hatten den Fastenmonat Ramadan und den heissen Sommer», erklärt sie. Daher seien viele nicht mehr physisch dabei gewesen, in der Bewegung engagiert waren sie aber trotzdem noch. Das sehe man heute.

Von den Millionenmärschen, die Algerien kurz vor dem Rücktritt von Präsident Abdelasis Bouteflika im März erlebt hat, ist man dennoch weit entfernt. Das Regime setzt inzwischen wieder verstärkt auf «unblutige Repression». Es lässt ProtestlerInnen verhaften, torpediert oppositionelle Veranstaltungen – und versucht so, die Bewegung zu spalten.

Gibt es trotzdem eine Chance auf echten Wandel? «Aber klar», meint Boufenik. «Wir haben sie doch schon ergriffen. Wir sehen Slogans oder Parolen, die vor Februar niemand öffentlich sagen konnte. Auch am Verhalten der Menschen kann man das sehen: dem Lachen und dem gegenseitigen Respekt», findet sie. «Ich habe seit Jahren keinen Rock mehr auf der Strasse getragen, heute kann ich das sorgenfrei machen.» Die Freiheit beginne zuerst beim Individuum. «Was möchte jemand sagen oder tragen, oder wie möchte jemand marschieren? Das sind kleine Dinge, aber ich finde solche Details wichtig. Sie zeigen, dass sich etwas bewegt.»

Boufenik ist sich sicher: An den Punkt, an dem Algerien vor dem Ausbruch der Proteste war, werde das Land nicht mehr zurückkehren. Genau diese Gewissheit erkläre auch die Entschlossenheit der Bewegung. Für Boufenik sind die heutigen Proteste nur die Fortsetzung ihres Kampfes. «Ich bin schon 2011 für mehr Freiheiten auf die Strasse gegangen, meinen Kampf für Frauenrechte führe ich aber noch viel länger.»

Offensiv feministische Rhetorik

Aus der Frauenrechtsbewegung von Oran ist Boufenik in der Tat kaum wegzudenken. Sie ist die Mitbegründerin der NGO Fard (das französische Akronym für «Algerische Frauen fordern ihre Rechte ein»), die sie bis 2010 auch präsidierte und die eine Hotline für Gewaltopfer betreibt. Heute führt sie die Abteilung, die für deren Betreuung zuständig ist.

Mit einer Prise Genugtuung kommentiert Boufenik die Rolle der Frauen bei den Protesten. «Ohne unsere massive Präsenz bei den Demos hätte es schon längst Gewalt seitens der Polizei gegeben. Unsere Anwesenheit hat definitiv dabei geholfen, den pazifistischen Charakter der Bewegung zu formen und über einen so langen Zeitraum aufrechtzuerhalten», ist sie überzeugt. Parolen und Slogans müssten allerdings manchmal korrigiert werden, erklärt sie. «Zum Beispiel gibt es die sehr präsente Parole ‹Bruder! Bruder!›. Wir kontern die mit ‹Bruder! Schwester!›-Rufen und geben dem Ganzen damit unseren eigenen Touch.»

Diese offensive Rhetorik hatte aber auch schon Konflikte zur Folge. «Es kamen immer wieder Leute und haben gefragt, was Feminismus überhaupt sei. Man hat uns vorgeworfen, die Bewegung mit der Forderung nach Gleichberechtigung spalten zu wollen. Also haben wir ihnen erklärt, warum uns diese wichtig ist.» Boufenik nennt das «Arbeit der Annäherung» – und sie hat funktioniert. «Viele haben gesehen, wie beharrlich ich mich der Bewegung verpflichtet habe. Heute kritisiert mich kaum noch jemand für feministische Forderungen.» Wieder angekommen am Platz des 1. November, löst sich der Protestzug friedlich auf. Auch Boufenik geht nach Hause. «Bis nächste Woche!», ruft sie.