Durch den Monat mit Franco Cavalli (Teil 3): Den Notstand ausrufen, ist das nicht utopisch?

Nr. 38 –

Franco Cavalli setzt sich als Krebsarzt langsam zur Ruhe. In der Politik aber bleibt die Gesundheitspolitik sein grösstes Anliegen: Sollte er in den Nationalrat gewählt werden, will er für eine Einheitskrankenkasse und gegen die mächtige Krankenkassenlobby kämpfen.

Franco Cavalli: «Ein Notstand kann auch finanzieller Natur sein. Eine Krebsbehandlung kostet schnell 300 000 Franken pro Jahr und Patient.»

WOZ: Franco Cavalli, Ihr Forum Alternativo tritt bei den Wahlen auf einer gemeinsamen Liste mit der SP an. Fürchten Sie nicht, dass Sie damit einfach der SP zu einem Sitzgewinn verhelfen?
Franco Cavalli: Die Tessiner Linke war immer zersplittert. Nun treten wir zum ersten Mal mit einer gemeinsamen Liste an – wir, die Grünen, die PDA, die KP und die SP. Nur die Trotzkisten machen nicht mit, aber die grenzten sich ja schon immer von allen ab. Wir sind überzeugt, dass wir geeint jene fünf Prozentpunkte zulegen, die für einen zweiten linken Sitz nötig sind. Sollte die SP diesen Sitz machen, könnten wir damit leben. Aber es ist viel wahrscheinlicher, dass wir ihn gewinnen. Auch weil ich im Tessin als Krebsarzt ein bekanntes Gesicht bin, das hilft in einem so kleinen Kanton. Ich will der Lega diesen Sitz abjagen – das wäre nach der Wahl 1995 schon das zweite Mal. Auch das ist ein bisschen mein Antrieb.

Warum denken Sie, dass Sie die Schweizer Politik noch braucht? Mit fast 77 könnte man sich ja auch langsam zur Ruhe setzen.
Ich trete schon langsam kürzer. Bis im Juni hatte ich als Arzt eine regelmässige Sprechstunde, nun betreue ich nur noch vereinzelt Patienten. Ich bin vor allem noch für die Stiftung unseres Forschungsinstituts tätig, etwa zwei Tage die Woche. Dass ich nun noch einmal für den Nationalrat kandidiere, hat vor allem damit zu tun, dass in der Gesundheitspolitik so viel schiefläuft. Umfragen zeigen, dass das Thema Krankenkassen die Bevölkerung sogar noch mehr bewegt als das Klima oder Europa. Hier muss was gehen. Sonst implodiert das System.

Sie warnen vor einer Zweiklassenmedizin …
Die Medikamentenpreise machen ein Drittel der gesamten Gesundheitskosten aus. Gerade Medikamente zur Krebsbehandlung sind extrem teuer, sie kosten inzwischen 10 000 bis 12 000 Franken. In der Onkologie kombinieren wir häufig zwei, drei Medikamente. Dann ist man schnell bei 300 000 Franken pro Jahr und Patient. Eine solche Behandlung können sich schon jetzt nicht mehr alle Patienten leisten. Aus zwei Gründen: Das Bundesamt für Gesundheit wartet immer länger damit, die teuren Medikamente auf die Krankenkassenliste zu setzen. Dazu kommt, dass Krankenkassen dann nicht alle diese Medikamente auch tatsächlich finanzieren. Sie beurteilen jeden Fall einzeln. Und wenn eine Kasse eine Behandlung als nicht verhältnismässig einstuft, bezahlt sie nicht. Es kann doch nicht sein, dass meine Krankenkasse darüber entscheidet, ob ich Medikamente bekomme oder nicht!

Man hat den Eindruck, dass sich in der Politik alle die Schuld hin- und herschieben, wenn es um die steigenden Krankenkassenprämien geht. Wie müsste man Ihrer Ansicht nach das System reformieren?
Die richtige Lösung wäre eine Einheitskasse, wie sie in Kanada existiert, und zwar mit einem progressiven Prämien- oder Steuersystem. Das Hauptproblem ist doch, dass ein Herr Blocher gleich viel für seine Krankenkasse bezahlt wie der normale Bähnler. Und es kann auch nicht angehen, dass wir fünfzig Krankenkassen haben mit fünfzig CEOs, die je eine Million pro Jahr verdienen.

Als zweite Massnahme bräuchte es Globalbudgets für ambulante Therapien. Denn das Problem in der Medizin ist nicht so sehr, wie viel eine Behandlung kostet, sondern wie viele Leistungen erbracht werden. Globalbudgets, also die Beschränkung der Verrechnungsmöglichkeiten, würden einen Anreiz schaffen, dass Ärzte und Ärztinnen verhältnismässig agieren. Drittens braucht es natürlich eine sehr strenge Kontrolle der Medikamentenpreise.

Die Pharmaindustrie lässt sich aber nicht so leicht kontrollieren.
Natürlich – aber es gibt Waffen: In internationalen Verträgen etwa ist festgehalten, dass ein Staat in einer nicht näher definierten Notsituation trotz Patentrechten Generika freigeben kann. Das hat zum Beispiel der ehemalige brasilianische Präsident Lula da Silva seinerzeit getan. Ich behaupte jetzt einfach mal, das ist einer der Gründe, warum er heute hinter Gittern sitzt.

Die Schweiz soll also den Notstand ausrufen? Das ist doch utopisch!
Das mag vielleicht sein. Aber das Recht dazu hätten wir, denn so ein Notstand kann auch finanzieller Natur sein. Der Punkt ist doch: Wir tun immer so, als wäre der Anstieg der Gesundheitskosten unvermeidlich. Und natürlich, zum Teil stimmt das aufgrund der alternden Bevölkerung und der neuen Technologien.

Doch einen Grossteil der derzeitigen Kostenexplosion verursacht die Politik selbst. Viele meiner Vorschläge waren bereits Teil der ersten Krankenkasseninitiative, die wir mit der SP in den Neunzigern lancierten. Aber immer, wenn es zu einer solchen Abstimmung kommt, fahren die Gegner eine massive Kampagne, finanziert von den Krankenkassen und den Bürgerlichen. Auch in Bern dominiert die Lobby – Gesundheitsminister Alain Berset bringt ja auch immer wieder gute Vorschläge ins Parlament, aber er scheitert damit regelmässig.

Mit seiner internationalen Hilfsorganisation Medicuba unterstützt Franco Cavalli das Gesundheitswesen auf Kuba. Seine Nähe zu sozialistischen Regierungen in Zentral- und Südamerika bringt ihm immer wieder scharfe Kritik ein.