Erwachet!: Die tote Hausangestellte

Nr. 38 –

Michelle Steinbeck residiert in einem Geisterhaus

Als Kind war mein Lieblingsbuch «Was ist dir lieber …» von John Burningham. Es behandelt interessante Dilemmas, zum Beispiel: Würdest du lieber von einem Krokodil gefressen, von einem Nashorn erdrückt oder einer Schlange erwürgt werden? Keine einfache Entscheidung. Was ich jedoch immer mit einem bestimmten Nein beantworten konnte: Würdest du für tausend Dollar in einem Geisterhaus übernachten? – Niemals!

Nun bin ich jetzt, Jahrzehnte später, in ein solches gelockt worden. Sie verkaufen es als Residenz für Künstlerinnen; tatsächlich ist es die ehemalige Jagdresidenz italienischer Milchimperialisten. Diese sind mittlerweile abgetreten; es heisst, sie hätten die Villa damals beim Glücksspiel verloren. Und doch ist die Vergangenheit hier noch sehr präsent. Sie raschelt und rumort und lässt uns nicht schlafen.

Die Geschichte passierte direkt nach dem Zweiten Weltkrieg und geht so: Der 22-jährigen Hausangestellten, bekannt als schönste Bauerntochter der Gegend, wird an einem hohen katholischen Feiertag beim Wasserholen an der Quelle die Kehle aufgeschlitzt. Ihr Verlobter, ein gleichaltriger Kriegsrückkehrer aus dem Dorf, wird verhaftet und nach zwei Jahren mangels Beweisen freigelassen. Der Mord ist bis heute ungeklärt.

So leben wir hier mit dem Geist der jungen Frau und haben für ihre Unruhe Verständnis. Wenn aus dem Kühlschrank wieder eine Weinflasche fehlt und von der auskühlenden Frittata plötzlich ein Stück, dann prosten wir ihr grosszügig zu. Alle Katzen, die um das Haus streichen, tragen ihren Namen; manchmal ruft sie als Käuzchen vom Dach. Wenn es im Gebüsch raschelt, die Lampe flackert oder eine Windböe alle Kerzen auslöscht, erschauern wir höflich.

Richtiges Herzklopfen lösen die blutigen Fingerabdrücke aus, die in manchen Schlafzimmern auftauchen, und im Dunkeln auch die vorbeihuschenden Schatten und Silhouetten. In manchen Nächten klopft sie leise ans Fenster, in anderen lässt sie sämtliche Türen schlagen und rennt die Treppen hoch und runter. In einem Zimmer scheint sie besonders aktiv, in diesem hat sie damals gewohnt. Künstlerinnen haben sie dort auf dem Bett springen sehen, und manche sind nachts aufgewacht, weil sie an den Füssen gekitzelt wurden.

Weniger mysteriös und sehr real sind die Erzählungen um den Mord, die sich bis heute hartnäckig halten. Wenn ich mit Einheimischen spreche, beginnt die Geschichte immer so: «Kennst du die Wahrheit? Willst du sie wissen, die Wahrheit? Nun, sie war sehr schön, hat allen den Kopf verdreht. ‹Una ragazza facile›, verstehst du, sie ging mit allen, wie ein Schmetterling setzte sie sich auf alle Blumen, sie war kein reines Mädchen.» In diesem Punkt sind sich alle einig. Die weiteren Wahrheiten variieren: Manche meinen, der Herr in der Villa habe sie gewollt, aber sie habe ihn abgelehnt, da habe er sie getötet. «Ehrensache, weisst du; das kann er nicht auf sich sitzen lassen.» Andere meinen, der Hausherr habe es natürlich nicht selber getan, sondern einen «Albaner» engagiert. Wieder andere halten doch den Verlobten für schuldig. «Er war eifersüchtig, klar, wer könnte es ihm verübeln?» Viele relativieren ihre Aussage mit: «Es waren andere Zeiten.» Aber hat sich tatsächlich so viel verändert? Es liegt wohl auch an diesen Erzählungen, dass sie weitergeistern muss.

Michelle Steinbeck ist Autorin. Im Geisterhaus schreibt sie an ihrem zweiten Roman und versucht nebenher, den alten Mordfall aufzuklären – und die lokale Bevölkerung.