Robert Frank (1924–2019): Eine ungeheuerlich existenzielle Bilderwelt

Nr. 38 –

Sein Fotoband «The Americans» (1958) brachte ihm Weltruhm. In seinem späteren, weitaus persönlicheren Werk rang Robert Frank in vielschichtigen Text-Bild-Collagen mit der Absurdität und Sinnlosigkeit des Lebens.

  • Wie die Wicklungen von Leben: Zwischen Heiterkeit und Tragik, Hoffnung und Verzweiflung, Liebe und Verlust. Foto: Robert Frank, «Sick of Good By’s», Mabou, 1978. Silbergelatine-Abzug, 47,8 x 33 cm. Sammlung Fotomuseum Winterthur, Schenkung George Reinhart. Pace / MacGill Gallery.
  • Eine Art offener frankscher Bildorganismus: Die Einsamkeit von Mabou – nicht einmal Fotos hängen an der Wäscheleine. Foto: Robert Frank, «Mabou», 1978. Sammlung Fotostiftung Schweiz. Pace / MacGill Gallery.
  • «Bleecker Street 1996» und «Mabou 1995»: Wo reale und imaginäre Geografie aufeinandertreffen. Foto: Robert Frank, «Roots», 1996. Silbergelatine-Abzug, 50,8 x 61 cm. Sammlung Fotomuseum Winterthur, Ankauf mit Mitteln der Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung. Pace / MacGill Gallery.
Robert Frank in New York, 1984. Foto: Chris Felver, Getty Images.

Er mochte es nicht, immer wieder auf «The Americans» angesprochen zu werden, dieses vermutlich wichtigste, singuläre Fotobuch der Fotoweltgeschichte, wie es Sarah Greenough von der National Gallery of Art in Washington vor zehn Jahren formuliert hat. Brummelnd, grummelnd schaute er dann an sich runter und schwieg.

Robert Frank war dreissig Jahre alt, als er das Gesuch für das Guggenheim-Stipendium einreichte, und ein Jahr älter, als er es 1955 erhielt, worauf er zwei, drei Jahre lang nur noch fotografierte. Offenbar hat er auf seinen Reisen durch die USA – alleine oder mit seiner ersten Frau Mary und den beiden Kindern Pablo und Andrea – 28 000-mal «abgedrückt», wie es in der analogen Fotosprache hiess. 83 Fotografien hat er daraus schliesslich für sein Buchprojekt ausgewählt. Da zuerst kein amerikanischer Verlag das Buch herausgeben wollte, nahm er das Angebot von Roger Delpire an. Es erschien also 1958 erstmals in Paris, aber entgegen seinen Vorstellungen war es restlos mit Texten aufgefüllt, wo immer die genaue Abfolge der Bilder einen freien Platz vorsah. Ein Jahr später folgte die amerikanische Version, dieses Mal präzise nach Vorlage, dafür gefolgt von vielen Kritiken, die bemängelten, wie negativ er doch die AmerikanerInnen und Amerika zeige. «In the case of Robert Frank, one wonders if his pictures contribute to your knowledge of anything other than the personality of Robert Frank», hiess es in einer von ihnen. Eine Reaktion wie diese, der Vorwurf also, er beschäftige sich in seinen Bildern vor allem mit sich selbst, war noch harmlos.

Reset, andersrum

Die nachfolgenden sechzig Jahre werden Frank und sein Werk fast ausschliesslich auf «The Americans» reduziert. Und das, obwohl sein Werk immer weiterging und sich zweimal radikal erneuerte, wie es in der Kunst nur selten geschieht. Ein Jahr nach «The Americans» erschien bereits sein erster Film, «Pull my Daisy», eine neue Form von improvisiert wirkender, aber detailgenau geplanter absurder Comedy, die er zusammen mit Alfred Leslie gedreht hat – mit Jack Kerouac als Drehbuchschreiber, der den dritten Akt seines nie vollendeten Theaterstücks «The Beat Generation» für den Film adaptierte, mit Allen Ginsberg, Franks Sohn Pablo und anderen als DarstellerInnen.

Deshalb: reset, andersrum, das Pferd für einmal von hinten aufgezäumt. Zwei Fotografien sind im Werk «Mabou (from Explain my Roots)» zueinandergestellt. Das linke Bild führt den Blick durch ein Fenster hinaus in den Hinterhof an der Bleecker Street 7 in Manhattan. Ein grauer, enger, verschlossen wirkender Hof im Winter. Schneereste am Boden hellen die schiere Ausweglosigkeit des Gevierts auf, korrespondieren mit dem kargen laublosen Baum, der sich wie eine dünne, sich verzweigende Ader nach oben zieht, Richtung Licht. Der typische Querbalken amerikanischer Fenster kreuzt sich in unserem Blick mit dem hochstrebenden Baum. An der Oberkante schliesst das Bild mit verlaufenden Entwicklungsfehlern, die wie eine Draperie, wie Reste einer eingeschlagenen Fensterscheibe wirken.

Die rechte Fotografie wiederum führt den Blick auf eine alte, spröde und brüchig gewordene Palästinakarte, die ausgerollt auf faltigen Laken liegt. Starkes Gegenlicht spiegelt und «brennt» so Teile der Karte weg, blendet das Kartografische aus, während es gleichzeitig jede Unebenheit, jeden Riss des Trägers zum Relief auftürmt, als verlebendige es die Karte. Ein auffallendes Paradox, das zwei Realitäten gegeneinander ausspielt, das Leben des Trägers versus das Leben des kartografischen Bildes. Unter dem linken Foto steht «Bleecker Street 1996», unter dem rechten «Mabou 1995», das waren seine beiden Wohnorte in New York und in Nova Scotia in Kanada, seit er die Schweiz verlassen hatte. Und in der Mitte dazwischen lesen wir «Roots», für Wurzeln oder Herkunft.

Freigelegte Nervenstränge

In diesem Diptychon treffen reale Geografie und modellhafte, imaginäre Geografie aufeinander. Der Geist des gelebten Ortes, die Bleecker Street in New York, trifft auf den Geist imaginierter Herkunft – Palästina –, aufgenommen in Mabou. Alle drei «Orte» – Bleecker Street, Mabou, Palästina – sind ebenso real, wie sie zu mentalen Orten, zu «genii loci», aufgeladen werden. Mitte der neunziger Jahre begann Frank, auch wieder öfter nach Zürich zurückzukehren. Mit June Leaf, der Künstlerin und zweiten Frau, reiste er durch den Jura mit der vergeblichen Fantasie, in der französischen Schweiz vielleicht die letzten Jahre verbringen zu können.

In reduzierter, minimaler Form enthält das Diptychon alle Elemente, mit denen Robert Frank arbeitete, seit er in den späten siebziger Jahren nach einer Reihe von Filmen (unter anderem «Cocksucker Blues», 1972, über die Rolling Stones oder das Roadmovie «Candy Mountain», 1987) zur Fotografie zurückgekehrt war. Es handelt sich oft um Montagen von zwei oder mehr Polaroidnegativen, die zusammen auf ein Blatt – auf einen Silbergelatineabzug – zu einem Werk vergrössert wurden.

Mit Handschrift, manchmal Schreibmaschinenschrift, setzte er Wörter in oder unter Bilder, ergänzte die Bildinformation, widersprach ihr, entzündete sie. Das Überschreiben war nicht deckend, nicht bedeutungseinengend, sondern eher «lasierend», sodass die verschiedenen Bild- und Textebenen ein durchscheinendes Gewebe formen, eine Art offenen frankschen Bildorganismus, den er in der Stille und Einsamkeit von Mabou auch mal flatternd an der Wäscheleine aufhängte.

Bereits mit «The Americans» galt Frank als zentraler Mitbegründer von subjektiver Dokumentarfotografie, seit den siebziger und achtziger Jahren wurde er jedoch immer direkter, persönlicher. Seine Text-Bild-Collagen wirken da wie freigelegte Nervenstränge, offene Stromkabel, wie die Wicklungen von Leben, von Existenz. Er entwarf in hoher autobiografischer Nähe kleine Lebenssituationen, die von Heiterkeit zu Tragik, von Hoffnung zu Verzweiflung, von Liebe zu Verlust pendeln. In einer Tiefe, die einem bisweilen den Atem nimmt, in einer Unruhe, die den Pulsschlag der Aufregung spüren lässt, in einer Tragik manchmal, die alles in ihren düsteren, schwarzen Schlund zu schlucken scheint.

Das Werk dieses Robert Frank keucht oft vor Verzweiflung, stösst sich zunehmend an der Sinnlosigkeit der Wirklichkeit, kämpft mit ihrer Absurdität – er verlor seine Tochter Andrea plötzlich bei einem Flugzeugabsturz, seinen Sohn Pablo langsam durch eine schwere psychische Krankheit –, kämpft gegen Resignation, verlangt in der Nacht urplötzlich nach Licht, nach Glück – unbändig, schonungslos, dürstend.

Wahrheit vor Kunst

Wie kann man eine so herausragende, in diesem Sinn singuläre eigensinnige Figur einbetten? Robert Frank war für mich immer ein Sinnbild für nackte Existenz, für konkret gelebten humanistischen «Existenzialismus» in all seiner Fragilität. Er ist ein Zwischenkriegskind jüdischer Herkunft, den Schweizer Pass erhielt er, erst kurz bevor er Zürich, die Schweiz, die Enge und Bürgerlichkeit dieses Landes, wie er es empfand, praktisch für immer verliess.

Die beiden mörderischen Kriege in der ersten Hälfte des Jahrhunderts haben alles zusammenbrechen lassen, haben die meisten Autoritäten ausser Kraft gesetzt. Sie verschärften die Einsicht in unsere existenzielle Absurdität radikal: Wir sind grundsätzlich in eine sinnlose Welt geworfen, und aus dieser Sinnlosigkeit gibt es kein Entrinnen. Der Mensch ist sich dieser Situation bewusst, doch kann er nicht anders, als sich nach Sinn zu sehnen, als vorwärtszuschreiten, er muss denken und handeln, um zu überleben, er muss in der Liebe die Leere und die Absurdität temporär aufzuheben versuchen. Frank entwarf eine ungeheuerlich existenzielle Bilderwelt, die von der Verletzlichkeit des Autors und der Welt zugleich spricht.

Während die berühmte Ausstellung «The Family of Man», die ab Mitte der fünfziger Jahre vom MoMA aus durch die ganze Welt reiste, die Einheit der Menschheit in der Vielzahl der Menschen beschwören und symbolisieren wollte und zugleich die amerikanische Form einer humanistischen Utopie und Ideologie entwarf, wirkt Franks Blick, den er in «The Americans» zur genau gleichen Zeit auf die USA wirft, weit ehrlicher, verletzlicher, eindringlicher. Er suchte die Nähe zu realen Subjekten, zu Aussenseiterfiguren, er verlangte nach Authentischem und distanzierte sich von den Ritualen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft – und damit wohl auch von seinem Vater, der für seine Bürgerlichkeit einen hohen Preis bezahlt habe, wie Frank einmal festhielt. Für Robert Frank galt immer: «I want to make something that has more of the truth and not so much of art.»

Urs Stahel ist selbstständiger Kurator, Dozent und Berater. Seit 2013 ist er verantwortlich für das Ausstellungsprogramm der Fondazione MAST in Bologna, von 1993 bis 2013 war er Direktor des Fotomuseums Winterthur, das er mitbegründet hat.