Klimapolitik in der Schweiz: Was sich bewegt hat

Nr. 39 –

Wo steht die Schweiz in der Debatte? Besuch in einem Bergtal, im Bundeshaus sowie bei AktivistInnen, die sich mit dem Erreichten noch lange nicht zufriedengeben.

Beerdigung des Pizolgletschers am Sonntag. Foto: Ursula Häne

Sie tragen schwarze Röcke, schwarze Anzüge, Trauerschleier und Wanderschuhe. Etwa 200 Menschen sind an diesem Sonntag gekommen, um dem Pizolgletscher oberhalb von Sargans auf 2500 Metern über Meer die letzte Ehre zu erweisen – in einem Bergkessel, der vor 150 Jahren noch fast komplett von Eis bedeckt war. Heute beeindruckt hier nur noch das helle Türkis des Wildsees. Der Gletscher ist tot, bloss ein kümmerlicher Rest hängt – fast komplett von Geröll verschüttet – an der Nordflanke des Berges.

Die Idee, den Gletscher zu verabschieden, entstand im letzten Herbst. Vierzig Prozent seines Volumens waren allein im Sommer zuvor dahingeschmolzen – und der Gletscher in zwei Teile zerfallen. Mehrere Umweltorganisationen schlossen sich zusammen, um eine Gedenkfeier zu organisieren: Das Sterben eines Gletschers sollte keine statistische Randnotiz bleiben. ETH-Glaziologe Matthias Huss hat den Pizolgletscher seit 2006 jeweils im Frühling und im Spätsommer vermessen. Dieses Jahr wohl zum letzten Mal: Kürzlich wurde bekannt, dass der Gletscher – mittlerweile in fünf Teile zerfallen – aus dem Messnetz gestrichen wird. Huss steht auf einem grossen Stein und erzählt, wie dick das Eis an dieser Stelle noch vor wenigen Jahrzehnten war: «Der Pizolgletscher ist ein Symbol für den Klimawandel. Er ist nicht der einzige, der verschwunden ist.» Über 500 ähnlich grosse Gletscher sind in der Schweiz seit 1850 weggeschmolzen. Weiteren 700 steht dasselbe Schicksal bevor.

Ölheizungen auswechseln …

In den nun laufenden Aktionstagen unter dem Motto «Klimawoche» ist klar geworden, dass die Auswirkungen der globalen Klimaerhitzung auch die bürgerliche Parlamentsmehrheit in Bern nicht mehr gänzlich kalt lassen. Während der Ständerat am Montag mit der Beratung des neuen CO2-Gesetzes beginnt, verteilen AktivistInnen auf dem Bundesplatz ihr druckfrisches «Klimablatt» sowie Aufrufe zur grossen Demo am Samstag in Bern. Andere treiben auf aufgebockten Fahrrädern einen Stromgenerator an. Damit wird die Debatte aus der kleinen Kammer ins Freie übertragen – bis die Polizei die unbewilligte Aktion abbricht.

Hatte der rechtsbürgerlich dominierte Nationalrat den bundesrätlichen Vorschlag zum revidierten CO2-Gesetz Ende 2018 noch bis zur Unkenntlichkeit verwässert, wird der Vorschlag jetzt verschärft. Ein Gesicht des Umschwungs ist FDP-Ständerat Damian Müller, der als Sprecher der Umweltkommission fungiert; deren Präsident Roland Eberle (SVP) hat diese Funktion abgetreten, nachdem er sich in vielen Punkten nicht durchsetzen konnte. Müller argumentiert ökonomisch: «Es ist billiger, wenn wir jetzt etwas machen.»

Die StänderätInnen scheinen es mit ihrem neuen Entwurf zumindest in Teilen ernst zu meinen. Das zeigt die Beratung über die Gebäudestandards. So soll es ab 2023 faktisch verboten werden, bestehende Ölheizungen durch neue zu ersetzen – was derzeit noch immer in über siebzig Prozent der Fälle getan wird. Der Passus ist das eigentliche Filetstück des Gesetzes, weil er sehr schnell eine konkrete Massnahme mit grosser Wirkung umsetzt. Nicht verwunderlich, dass hier die Gegenstimmen am lautesten ausfallen: Die kantonalen EnergiedirektorInnen haben intensiv dagegen lobbyiert, weil sie sich um die HausbesitzerInnen sorgen. Im Rat sind die klassischen Totschlagargumente zu hören: Hier werde in die Kantonsautonomie eingegriffen, das Fuder überladen – und ein Referendum würde das ganze Gesetz dann doch noch zum Scheitern bringen. Aber ausgerechnet ein Freisinniger redet am deutlichsten gegen diese Argumente an: der frühere FDP-Präsident Philipp Müller, der sich laut eigenen Angaben seit 38 Jahren mit Gebäudesanierungen beschäftigt. «Wer kommt heute noch auf die Idee, eine Ölheizung durch eine Ölheizung zu ersetzen?», fragt er rhetorisch. «Wer ist so dumm?»

Die StänderätInnen stimmen dem Vorschlag der Kommissionsmehrheit mit 31 zu 14 zu – und brüskieren damit die Kantone. «Es hat sich wirklich viel bewegt in diesem Jahr», sagt später Roberto Zanetti (SP), der in der vorberatenden Kommission sass. Er habe über die Anträge gestaunt, die von Bürgerlichen in die Sitzungen getragen worden seien. Paul Rechsteiner (SP) bestätigt das: «Plötzlich gibt es mehr Gestaltungsraum im Parlament.» Jetzt seien die Profis in der Verwaltung gefordert, weitere Vorschläge auszuarbeiten.

Dass im Lauf dieses Jahres Bewegung in die bürgerlichen Reihen gekommen ist, darf über eines nicht hinwegtäuschen: Das Gesetz, wie es die Kommission jetzt vorschlägt, ist nach wie vor eine Minimalvariante. Besonders deutlich zeigt sich das darin, dass der Finanzplatz fast vollständig ausgeklammert bleibt. Dabei sei dieser mit seinen Investitionen auf der ganzen Welt für jährlich zwanzigmal mehr CO2-Ausstoss verantwortlich, als die Schweiz im Landesinnern verursache, sagt Anita Fetz (SP). Kein Wunder, wenn sich die Klimastreikbewegung damit nicht zufriedengeben wird. Die AktivistInnen fordern echte Lösungen mit echten Resultaten. Umso mehr wollen sie der Politik vermehrt auch mit zivilem Ungehorsam auf die Sprünge helfen.

… oder doch gleich das System?

Montagabend im Royal in Baden. «Braucht es einen Systemwandel?», fragt Cybel Dickson, die auch im Vorstand der Juso des Kantons Aargau sitzt. Fast alle der etwa vierzig Klimabewegten wedeln zur Zustimmung mit den Händen.

Sie alle sind gekommen, um eine Parole auf ihre innere Bedeutung abzuklopfen, die an den Klimaprotesten immer wieder zu hören und zu lesen ist: «System change, not climate change!» Ziel sei es nicht, am Ende eine Position zu fassen, heisst es vom Organisationskollektiv, man wolle stattdessen zum Nachdenken anregen.

Zunächst halten die WirtschaftsstudentInnen Lea Trogrlic und Joël Bühler vom Verein Plurale Ökonomik Zürich ein Referat: Sie wollen den TeilnehmerInnen die wichtigsten Instrumente mitgeben, um das globalisierte Wirtschaftssystem zu analysieren. «Die Mainstreamökonomie geht davon aus, dass der CO2-Ausstoss sinken kann, auch wenn das Bruttoinlandsprodukt weiter wächst», erklärt Lea Trogrlic. Dafür gebe es Beispiele – aber ob man auf diesem Weg das notwendige Ziel von netto null bis 2030 erreicht? «Es scheint unmöglich», sagt sie.

«Warum braucht es überhaupt ein Wirtschaftswachstum, damit es uns gleich gut geht?», fragt eine Aktivistin. Die Frage beschäftigt die meisten hier – und ist zumindest teilweise rhetorisch gemeint. «Wachstumszwang» ist denn auch ein Thema, über das in Kleingruppen weiterdiskutiert wird. Danach werden die Erkenntnisse im Plenum zusammengetragen.

Es gibt kaum VielrednerInnen, und ob jemand für Reformen oder eine Revolution eintritt, spielt keine Rolle: Alle hören einander zu. Konsens ist: Eine Revolution müsste gewaltfrei sein. Fragt sich nur: eine Revolution für eine Gemeinwohlökonomie – oder die komplette Demokratisierung der Wirtschaft? Niemand behauptet, die Lösung zu kennen. Vielmehr geht es um das Sammeln von Ansätzen. In einem sind sich alle einig: «Wenn nichts passiert, kommt der Kollaps», sagt jemand.

In der laufenden Klimawoche zumindest ist schon einiges passiert. Während weltweit riesige Klimademos stattfanden, gab es auch in der Schweiz vielfältige Aktionen, Workshops, Diskussionen oder Velodemos. In Lausanne haben am Freitag rund 200 AktivistInnen die zentral gelegene Bessières-Brücke besetzt. Es sind nicht zuletzt solche Aktionen des zivilen Ungehorsams, die von der Bewegung noch vermehrt zu erwarten sein werden. «Das Streiken allein reicht nicht mehr», sagt Dominik Waser, der wie auch Bühler und Trogrlic Juso-Mitglied und in Zürich für den Klimastreik aktiv ist, «denn die CO2-Emissionen müssen runter, und zwar sofort.» Er betont aber, dass innerhalb der Bewegung nach wie vor unterschiedliche Positionen und Aktionsformen Platz haben werden – und dass das Engagement gleichzeitig auf der Strasse und auf institutioneller Ebene stattfinden soll. «Unser Konsenssystem lässt das zu», sagt Waser, «es ist wichtig, dass wir den Spaltungsversuchen von aussen weiterhin standhalten.»

«Das Streiken allein reicht nicht mehr»: PolizistInnen räumen am Freitag eine Blockade auf der Bes­sières-Brücke in Lausanne. Foto: Salvatore Di Nolfi, Keystone

Mit der Demo in Bern am Samstag und dem Wahlherbst kommt die Bewegung jedenfalls noch lange nicht an ihr Ende. Bereits haben sich die AktivistInnen für das nächste Jahr der internationalen Kampagne «By 2020 We Rise Up» angeschlossen. Unter diesem Slogan werden europaweit gewaltfreie Aktionen für Klimagerechtigkeit und Systemwandel stattfinden.

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